Traeume ernten
Turnmannschaft aus den Siebzigerjahren. Gib mir deine Kinder mit, und du wirst sie nie wiedersehen. Das Aussehen tut nichts zur Sache, sie ist bestimmt eine nette Frau!, beruhige ich mich selbst.
Glücklicherweise kommt Nathalie dazu, die zukünftige Lehrerin von Fiene. Ich habe bereits mit Nathalie gesprochen â sie ist ungefähr so alt wie ich, hat halblanges, kastanienbraunes Haar, ein freundliches Gesicht, offensichtlich eine intelligente Frau. Erleichtert gebe ich ihr die Hand. »Der Unterricht beginnt«, sagt sie, »sollen wir die Kinder mitnehmen?«
»Mitnehmen?!«, sage ich erschrocken, »Aber das hier ist alles völlig neu für sie. Sie sprechen kein Französisch. Kann ich am ersten Tag dabeibleiben?«
Nathalie scheint kurz zu zögern, aber die Turntrainerin ist schneller: » Ah mais non! Hors de question! Die Kinder müssen sich integrieren! Das wird nichts, wenn die Mutter dabei bleibt!«
Ich versuche noch kurz zu verhandeln, betone, wie wichtig auch ich ihre Grundsätze finde, sage, dass es nur um den ersten Tag gehe. Aber es ist ein ungleicher Kampf, den ich endgültig aufgebe, als ich Marijn unruhig vom einem zum anderen blicken sehe. »Nun gut Mädels, das wird also euer erster Vormittag in der Schule«, sage ich schlieÃlich, »ein paar Stündchen spielen, und dann holen wir euch auch schon wieder ab und essen zusammen was Leckeres!«
Mit einem Anflug von Panik in den Augen schauen die Mädchen mich an. Jede Faser in ihrem Körper scheint darauf eingestellt, diesen Augenblick zur Flucht zu nutzen. Aber ich bin es, ihre Mutter, die ihnen sagt, dass sie bleiben müssen, dass alles gut wird. Also gehen sie, diese beiden Mädchen von kaum vier und sechs Jahren. In ihrer Angst wirken sie noch kleiner, als sie es sowieso sind.
Als wir wieder nach drauÃen gehen, nimmt Aad mich in die Arme, redet beruhigend auf mich ein. Aber alles wird von einem Bild in den Hintergrund gedrängt, das mir den Atem verschlägt: Ich sehe Marijn, wie sie, beschienen von einem Streifen Licht, in der holländischen Montessori-Schule auf dem Boden sitzt. Ich fühle, wie Tränen in mir aufsteigen, wenn ich an ihre Freunde denke, die Perlen, mit denen sie gespielt hat: ihr sogenanntes Goldenes Material. Was haben wir nur getan?
Drei ewige Stunden später stehen wir noch immer vor dem Zaun, dann öffnet sich die Tür. Die Mütter strömen ins Gebäude, war ten vor den Türen der Klassen. Fiene kommt als Erste heraus. Sie lacht, aber ich sehe eine unerwartete Müdigkeit in ihren Augen. Und da ist auch Marijn, sie ist ein anderes Mädchen als heute Morgen noch. Ich sehe, dass sie geweint hat, lange geweint, die Tränen sind getrocknet, haben eine blasse Spur auf ihren Wangen hinterlassen. Ein paar Wimpern kleben aneinan der. »Tout câest très bien passé!« , versichert uns die Lehrerin ein wenig zu laut.
»Wie war es in der Schule, Mädels?«, fragen Aad und ich im Auto. Mehr als ein ausweichendes »ganz gut« bekommen wir nicht zu hören. Erst Stunden später gesellen sich Fiene und Marijn zu mir, während ich Laartje wickle. »Sie haben Fiene geholt, damit ich aufhöre zu weinen«, sagt Marijn. Ich schaue sie an, blicke in dieses sanfte, runde Gesicht, betrachte ihre blauen Augen mit den langen Wimpern. Es ist ungewohnt, auf einmal so viel Traurigkeit darin zu sehen. Ich ziehe sie an mich, streichle ihre blonden Haare und frage: »Warum musstest du denn so weinen, SüÃe?« Sie zögert einen Moment lang, schaut sich suchend nach Fiene um, dann sagt sie: »Die Lehrerin war nicht nett zu mir.«
»Nein«, sagt Fiene, »gar nicht nett. Marijn musste auf einen Tisch.«
»Auf einen Tisch?«, frage ich. Es dauert eine Zeit, bis ich die ganze Geschichte erfahre, bis ich verstehe, wie pädagogisches Feingefühl im Süden Frankreichs aussieht, wie zumindest diese Lehrerin ein ängstliches Kind, das ihre Sprache nicht spricht, meint behandeln zu müssen.
Gleich nachdem alle Kinder in der Klasse waren, stellte sie einen Stuhl auf einen Tisch und setzte Marijn darauf. Dann rief sie alle Kinder herbei, damit sie sich in einem Kreis um den Stuhl setzten. »Ich war wirklich schrecklich hoch oben«, sagt Marijn, »und alle haben mich angestarrt.«
Doch die Panik schlug erst zu, als die Lehrerin begann, in schnellem Französisch Fragen auf Marijn abzufeuern.
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