Traeume ernten
Kofferraum lässt den eigentlichen Zweck ihres Besuches deutlich werden: ein brandneuer feuerwehrroter Overall, zwei Paar Arbeitshandschuhe mit lederverstärkten Fingern und eine Jute-Tasche, aus der verschiedene Werkzeuge hervorschauen.
Zunächst stürzen sich Aad und Rex auf eine groÃe hölzerne Spielburg, die wir in Einzelteilen aus den Niederlanden mitgebracht haben. Sie ist schnell aufgebaut, und noch während wir letzte Hand ans Dach legen, sitzen die Mädchen bereits auf der Schaukel, und ihre kleinen FüÃe streifen das hohe Gras. Dann ist es vollbracht: Vor unserem Haus steht eine Holzkonstruktion, wie sie in beinahe allen niederländischen Häusern zu finden ist, in denen kleine Kinder leben. Ein kleines Stück dieses rauen Landes gehört plötzlich uns. Nun stürzt Rex sich auf die wichtigeren Aufgaben. Als wir vom Supermarkt zurückkommen, steht er mit einer groÃen Kettensäge auf einer Leiter, die er gegen eine der Zypressen gelehnt hat. Zu seinen FüÃen breitet sich ein Meer aus abgesägten Ãsten aus. Anneke arbeitet im Garten, den wachsenden Berg Unkraut fährt sie nach und nach in der neuen Schubkarre weg. Jeden Tag fühlen wir uns auf diesem Flecken Erde etwas mehr zu Hause.
»Wie viel Mal schlafen noch, Mama?«, fragt Marijn heute Abend. Die Unruhe in ihrer Stimme hat in der letzten Zeit immer mehr zugenommen. Von den drei Wochen, die wir inzwischen hier wohnen, fallen zwei mit den französischen Frühjahrsferien zusammen, jetzt nähern sich die Tage dem Ereignis, das unerbittlich bevorsteht: ihrem ersten Schultag in Frankreich.
»Sollen wir es uns schon mal anschauen?«, frage ich, als wir am Mittag des nächsten Tages durch das Dorf fahren. Die Schule liegt auÃerhalb des alten Dorfzentrums auf einem flachen Stück Land. In einem Beet steht ein kleiner Olivenbaum aus der Gärtnerei. Eine kleine, romantische, von alten Platanen überschattete Dorfschule ist dieser rechtwinklige Flachbau nicht gerade, der in den Sechzigerjahren entstanden sein muss. Wir gehen zum Schulhof, der von hohen verzinkten Zäunen umgeben ist. Durch das Gitter blicken wir auf eine asphaltierte Fläche, auf der fünf kleine Bäume wachsen, die in 30 Jahren vielleicht einmal Schatten spenden werden. Dann schauen wir uns auch den kleineren Schulhof der Vorschule an, und ich suche eifrig nach etwas, über das ich eine wohlwollende Bemerkung machen könnte. Immerhin gibt es hier mehr Bäume, und dort drüben: »Schaut mal, was für hübsche Bänke!« Im Schatten der Maulbeerbäume, die bereits ausgeschlagen haben, stehen kleine hölzerne Bänke auf gusseisernen Gestellen â Bänke, die genau zu der schönen, alten Dorfschule aus meiner Phantasie gepasst hätten.
Vier Tage später fahren Aad und ich mit zwei aufgeregten Mädchen im Auto zur Schule, Marijn und Fiene. Als wir den neuen dunkelblauen Land Rover zwischen die kleinen, alten Peugeots auf den Parkplatz stellen, wird mir klar: Das birgt Zündstoff.
Wir sind früh dran, am Schulzaun stehen kleine Gruppen von Frauen, man unterhält sich miteinander. Ich sehe glänzende Trainingshosen, verfilzte Westen, und es fällt mir auf, dass viele Frauen rauchen. Alle scheinen uns zu beobachten, bleiben aber gleichzeitig auf Abstand. Aads joviales »Bonjour!« wird erst nach kurzem Zögern beantwortet, danach bleibt es still. Alle diese Menschen kennen sich, wir sind die AuÃenseiter. Vielleicht sogar Eindringlinge. Ich muss an meine Hauptschule denken.
Als die Klingel ertönt, betreten wir mit zwei Kindern die Schule, die sich fest an uns klammern. Wir gehen in einen geräumigen Saal mit einem groÃen runden Fenster und einer Lichtkuppel. Zwei Metallpfeiler sind in einem fröhlichen Rosa gestrichen â es beruhigt mich, dass ein Architekt sich doch ein wenig für die Schule hat erwärmen können.
»Ah, les enfants hollandais!« Eine etwas ältere Frau mit einer schwarzen Kurzhaarfrisur kommt händereibend auf uns zu, wie der Wolf, der gleich eine leckere Mahlzeit verschlingen wird â frische blonde Kinder. Marijn und Fiene verstecken sich erschrocken hinter meinem Rücken. Ich fühle mit ihnen. Die Frau ist fast genauso groà wie ich, nur viel breiter, sie hat dunkle Augen, die uns direkt anblicken. Das ist keine sanftmütige Grundschullehrerin, sondern die sadistische Trainerin einer russischen
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