Traeume ernten
Baby, und erst unter dem Wasserstrahl kam die weiÃe Haut wieder zum Vorschein. Sie wirkte jetzt geradezu jungfräulich. Das Ganze ist auch eine klebrige Angelegenheit, und schon bald hatte ich eigentlich keine Lust mehr.
»Kümmerst du dich heute um das Fass, wenn die Kinder im Bett sind?«, fragt Siebe wie nebenbei, als er an diesem Mittag den Weinkeller kontrolliert. Bruno steht im Hintergrund, wo er ein paar lange Schläuche aufrollt, und sobald Siebe auÃer Sichtweite ist, kommt er auf mich zu, um einen bösen Blick auf die hellerleuchtete Türöffnung zu werfen, durch die Siebe soeben verschwunden ist.
»Sie haben doch schon den ganzen Tag gearbeitet«, sagt er dann, »gehen Sie ruhig duschen, ich mache das schon.«
»Ah, jâapprécie, Bruno!« , sage ich zufrieden. Ich spüle noch ein paar Messbecher aus, stelle sie zurück auf ihren Platz, trete ins grelle Licht der Sonne hinaus und gehe wieder zurück ins Haus. Ich ziehe mich im Schlafzimmer aus, werfe meine Arbeitskleidung in die Ecke und betrete die kleine Duschkabine. Ein breiter Strahl Sonnenlicht scheint durch das Plastik der Schiebetüren. Ich lasse das warme Wasser über meinen Körper laufen, verfolge einen Wassertropfen, der träge an meiner Schulter, an Bauch und Oberschenkel hinuntergleitet. Ich schlieÃe meine Augen.
Plötzlich zieht sich etwas in meiner Brust zusammen. Etwas sagt mir, dass ich in den Weinkeller gehen muss. Ohne weiter nachzudenken, springe ich aus der Dusche und greife nach einem T-Shirt, das auf dem Boden liegt. Ich renne die Treppe hinunter und nach drauÃen. Und dabei glaube ich doch nicht an Vorahnungen â¦, denke ich, während ich über den Kies zum Weinkeller renne. Ich öffne die Tür mit Schwung und sehe, was geschehen ist:
Bruno baumelt wie eine schlappe Puppe über dem Rand des Fasses. Sein Kopf hängt schief herunter, seine Augen sind so verdreht, dass ich die Pupillen nicht mehr sehen kann, sondern nur noch das WeiÃe. Ich blicke auf seinen geöffneten Mund, den grauen Schleier auf seinen dicken Wangen und denke: Das ist das Gesicht eines Toten. Ein Arm pendelt noch über dem Rand des Fasses, und ich beobachte, wie Bruno langsam herunterrutscht â gleich wird er durch die Haut aus Traubenschalen, die auf dem Most liegt, nach unten sinken.
Ich schaue mich kurz um: Die kurze Trittleiter, die über dem Fass lag, ist heruntergefallen. Mit zwei Schritten bin ich dort, packe sie, springe auf den kleinen Metallstuhl, der vor dem Fass steht, und stelle die Leiter aufrecht in den Most. Ich zwänge einen Arm unter Brunos Achsel und versuche, auch seinen anderen Arm wieder über den Rand des Fasses zu ziehen. Nur gut, dass der Wein den gröÃten Teil seines Gewichtes trägt. »Okay Bruno«, schreie ich ihm ins Ohr, »stell einen Fuà auf die Leiter!«
Immer wieder brülle ich ihn an, bis ich fühle, wie das Gewicht in meinen Armen ein wenig abnimmt. Im Zeitlupentempo ziehe ich ihn weiter hinauf, jetzt hängt er halb über dem Rand, mit all meiner Kraft wuchte ich ihn schlieÃlich ganz hinüber.
Nun liegt Bruno auf dem nassen Boden. Ein dicker, noch ganz benommener junger Mann, über und über rot vom Traubensaft. Völlig auÃer Atem knie ich mich neben ihn. Nach etlichen Minuten öffnet er schlieÃlich die Augen. »Es ist also wahr«, sagt er, »wenn du stirbst, läuft das ganze Leben noch einmal vor deinen Augen ab.« Dann verstummt er wieder und schaut mir in die Augen. »Merci« , sagt er, »Sie haben mir das Leben gerettet.« Vorsichtig richtet er sich auf. Ich helfe ihm, sich abzuspülen, bleibe neben ihm sitzen, während er sich in der Sonne trocknet.
Eine Viertelstunde später hole ich die Kinder aus der Schule ab und laufe kurz danach mit ihnen hinter dem Einkaufswagen durch den Supermarkt â eine Mutter mit zwei Schulkindern und einem Baby. »Nein Schatz, jetzt nicht, zu Hause bekommst du einen Keks.«
Als die Kinder im Bett sind, nehme ich mir das Handbuch über Weinherstellung, das auf dem Tisch liegt. Bei der Fermentation wird Kohlendioxid frei, lese ich, ein giftiges Gas, das im schlimmsten Fall tödlich ist. Solange die Weine gären, darf man nie alleine in ein Fass steigen, zur Sicherheit muss immer eine zweite Person anwesend sein. Im »Midi Libre« lese ich von einem Mann, der in ein Fass gefallen und untergegangen ist. Sein Sohn,
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