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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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der Welt ausgerechnet ihr verhasstes Frankreich ausgesucht hat. Und der noch immer fieberhaft nach Argumenten sucht, die diese Wahl rechtfertigen könnten. Sie würde mich ständig irritieren, diese Conchy, wenn ihr jammervoller, sich ewig wiederholender Wortfluss nicht an mir abperlen würde wie Wassertropfen an einer Ente. Kurz geschüttelt, und weg ist er.
    Der zweite Neuzugang im Team ist am Tag zuvor auf einem alten Moped auf das Gelände gefahren. »Mama, da ist der Kaninchenmann!«, hatten Marijn und Fiene gerufen.
    Er war schon öfter bei uns gewesen, ein unsicherer, kleiner 50-jähriger Junge mit einer Plastikkiste hinten auf seinem Moped, in der er Gras für seine Kaninchen sammelt. Das beste Gras der Region wächst offenbar hinter unserem Weinkeller auf einer großen Fläche mit hohen, wogenden Halmen, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübt. Bruno zufolge wohnt er nicht weit von uns entfernt zusammen mit seinem Bruder in einer Hütte, die sie aus alten Brettern zusammengezimmert haben. Sie ist so zwischen den Sträuchern versteckt, dass ich noch immer nicht weiß, wo sie genau steht. So wild ist die Gegend, dass so etwas möglich ist. Gestern also fährt er langsam vor dem Weinkeller nach unten, ins Tal, auf der Suche nach Kaninchenfutter. Ich sehe ihn durch das hohe glänzende Gras waten, um dann vornübergebeugt mit gezielten Bewegungen ans Werk zu gehen. Was er tut, sieht sehr systematisch aus, und ich empfinde Sympathie für diese Hingabe. Ich habe eine Idee. Als er, seine Arme voll ordentlich aufgestapeltem Gras, zu seinem Moped zurückgeht, frage ich ihn, ob er Lust hätte, einen Tag bei der Lese zu helfen. Es dauert einen Moment, bis er versteht, dann nickt er heftig und entschieden: »Ah oui, ah oui! Demain!«
    Ohne weitere Erklärungen einzufordern, steigt er wieder auf sein Moped, um in einer Wolke weißen Staubs davonzufahren, wobei er eine Spur aus grünen Grashalmen auf der Auffahrt zurücklässt.
    Bruno starrt mich mit geöffnetem Mund an, als er davon hört: » Mais quand même, patronne , der Typ ist nicht normal. So ein Mann kann doch nicht arbeiten.« »So schwierig ist es nun auch wieder nicht, Trauben zu pflücken«, sage ich, »ich denke, das wird er schon hinbekommen. Wir schauen es uns einfach einen Tag lang an.«
    Ich höre mich überzeugter an, als ich mich fühle. Als ich an diesem Abend im Bett liege, frage ich mich, ob der Kaninchenmann unangepasst oder geistig behindert ist. Gut, er wohnt in einer Hütte, aber ist er deshalb verrückt? War es schlau, ihn einzustellen, oder ist das ein romantischer Impuls, den ich besser hätte beherrschen müssen? Was werden die anderen Erntehelfer von mir denken? Und Siebe?
    Das erste Geräusch, das ich am nächsten Morgen höre, ist der knatternde Auspuff des alten Mopeds. Als ein paar Minuten später immer noch niemand angekommen ist, gehe ich die Treppe hinauf. In einer Ecke, bei den Bäumen, steht der Kaninchenmann mit einer alten Gartenschere in der Hand. »Kommen Sie doch kurz mit zum Haus, ich habe Kaffee gemacht«, schlage ich vor. Er schaut mich erschrocken an: »Ah non, j’attends ici.«
    Ich fühle, dass ich ihn nicht drängen sollte, und lasse ihn in Ruhe. Die Erntehelfer, die inzwischen angekommen sind, betrachten die ängstliche Gestalt erstaunt, die versucht, mit den Sträuchern zu verschmelzen. Aber sie sagen nichts. »Das ist jemand aus der Nachbarschaft, der uns bei der Ernte helfen wird«, erkläre ich, als die Gruppe sich in Bewegung setzt. Der Kaninchenmann tritt aus seiner Deckung und folgt uns – in zehn Metern Abstand, aber immerhin, er folgt uns.
    Als ich eine Stunde später auf dem Weinfeld nachschaue, liegen Carole und Géraldine wie immer vorne. Aber in der Reihe daneben, sehe ich, wie der Kaninchenmann, den ich zusammen mit Géraldines schweigsamem Sohn losgeschickt habe, in äußerster Konzentration Trauben in den Eimer wirft – sein Team liegt nur zwei Rebstöcke zurück.
    Um zwölf Uhr, als die Gruppe sich laut redend am langen Tisch versammelt, ist der Kaninchenmann offensichtlich ohne ein Wort verschwunden. Ich frage mich, ob er wohl zurückkommt oder ob ich mich doch in ihm geirrt habe. Aber um halb zwei steht er, so als wäre er nie weg gewesen, am Rand der Parzelle, die wir heute Morgen verlassen haben. An diesem Abend fange ich

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