Träume jenseits des Meeres: Roman
schreiben. Ihre Handschrift wirkte ungelenk, Grammatik und Orthographie waren die eines kleinen Kindes, denn sie hatte nur wenig Schulbildung genossen – doch das musste noch getan werden, wenn sie jemals Frieden finden wollte, und sie ließ nichts aus.
Als der Brief fertig war, lehnte sie ihn an die Lampe und legte ihren kostbaren Verlobungsring daneben. Im Nachthemd stellte sie sich ans Fenster und schaute auf die Stadt. Irgendwo da draußen waren sie. Millicent spürte förmlich ihre Gegenwart in den dunklen Schatten und vernahm ihre Stimmen. Sie zitterte. Sie würden sie wiederfinden – würden nach ihr suchen und sich an ihr rächen. Für sie gab es kein Gefängnis aus Erinnerungen – sie hatten die Freiheit, zu tun, was ihnen gerade gefiel, wohl wissend, dass Lügen und Ungerechtigkeit sie schützen würden.
Millicent zog das unfertige Hochzeitskleid an. Raschelnd legte sich der Stoff um ihre Schultern und fiel bis auf den Boden. Es war cremefarben, winzige Rosetten waren ans Mieder gesteckt und an der Taille zu einem Sträußchen versammelt. Sie kam nicht an die Schnüre auf dem Rücken, doch das war einerlei.
Lange betrachtete sie sich im Spiegel, bevor sie leise durch das Haus ging. Der Hocker stand auf der Veranda. Sie nahm ihn mit in den Garten hinunter.
Eine sonderbare Ruhe überkam sie, als sie in den sternenklaren Himmel hinaufschaute, das Spiegelbild des Mondes auf dem Wasser betrachtete und die Muster der raschelnden Blätter an den Bäumen beobachtete. Ihre Füße waren nass vom Tau, der Saum ihres kostbaren Kleides war durchweicht. Sie bemerkte es kaum, holte ein Seil aus Ezras Schuppen und kletterte auf den Hocker, den sie unter den kräftigsten Baum gestellt hatte.
Als alles fertig war, warf sie noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf das kleine Haus, das sie einmal ihr Zuhause genannt hatte – und tat einen Schritt in die Ewigkeit.
Sydney Town, 3. Mai 1793
Ernest erreichte zwei Tage nach dem Prozess den Stadtrand. Er hatte gehofft, ein vorbeifahrender Karren würde ihn mitnehmen, doch auf dem einsamen Weg war er niemandem begegnet und daher fünf Tage unterwegs gewesen. Er machte einen Umweg, damit ihn niemand in seiner zerschlissenen, dreckigen Unterwäsche sah, und kam kurz nach dem Morgengrauen zu dem kleinen Haus über dem Fluss.
Es war unheimlich ruhig, Türen und Fenster waren zu, die Blenden fest gegen das schwache Sonnenlicht eines sturmverhangenen Himmels verschlossen. Er stieg die beiden Holzstufen zur neuen Veranda hinauf. Die Haustür war wie immer unverschlossen, und er ging hinein.
Stille empfing ihn, verbunden mit einem eigenartigen, beinahe süßlichen Geruch, den er nicht einordnen konnte. Er stand in der Küche und betrachtete die ungespülten Teller auf dem Tisch, die Töpfe und Pfannen im Spülbecken. Es war nicht die Art seiner Mutter, das Haus so unaufgeräumt zu verlassen – irgendetwas stimmte nicht. Sein Mund wurde trocken, sein Herz raste vor Angst, während seine Phantasie alle möglichen Katastrophen heraufbeschwor. Auf der Suche nach einer beruhigenden Erklärung ging er von Raum zu Raum. Doch die Stille verhöhnte ihn, und als feststand, dass niemand zu Hause war, nahm er rasch Stiefel, ein Hemd und eine Hose an sich, die seine Mutter im Nähzimmer gelassen hatte. Er musste Millicent finden.
Die Haare noch nass von seiner Katzenwäsche, holte er sich etwas Brot und Käse und eilte wieder nach draußen. Zögernd blieb er stehen, denn er war nicht sicher, wo er mit seiner Suche anfangen sollte. Millicent war wohl bei seinen Eltern, aber wohin um alles in der Welt konnten sie so früh an einem Samstagmorgen gegangen sein? Nach kurzer Überlegung lief er den Hügel hinunter zur Stadt. Vater war höchstwahrscheinlich in der Kirche und bereitete sich auf den sonntäglichen Gottesdienst vor. Dort würde er es zuerst probieren.
Die Sonne war hinter einer dicken Wolkenschicht verschwunden, und ein kalter Wind wehte vom Meer herüber. Ernest zwängte sich gerade durch die geschäftige Menge an den Kais und in den schmalen Gassen, da fielen die ersten Tropfen. Der Regen wurde immer stärker, bis Ernest völlig durchnässt war; das Hemd hing an ihm wie eine zweite Haut, die grobe Arbeitshose klebte an seinen Beinen. Auf seinem Weg zur Kirche fiel ihm diese Unannehmlichkeit jedoch kaum auf. Er musste das Mädchen finden, das er liebte, und wissen, dass sie in Sicherheit war.
Vor ihm ragten die Mauern der Kirche auf; die dunkelroten Backsteine
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