Träume jenseits des Meeres: Roman
wenn du sie mit ansiehst.«
Sie nickte. »Na schön. Ich werde dafür sorgen, dass dir jemand etwas zu essen und Medikamente bringt, wann immer es mir möglich ist.« Sie legte ihm eine kühle Hand an das schmutzige, stoppelige Kinn. »Ich muss gehen«, sagte sie ruhig, und Tränen glitzerten auf ihren Wimpern. »Mach’s gut, Billy, und denk immer daran, dass wir dich lieben und dir helfen werden, wo wir können.«
Als sie ihn umarmte, roch er die Frische ihres Haars und das Lavendelwasser auf ihrer Haut; er spürte die drahtige Kraft in ihrem schlanken Körper, der ihm sein Zuhause wiederzubringen schien. Vierzehn Jahre Zwangsarbeit waren eine lange Zeit, doch in jenem Augenblick schwor er sich, alles an ihr wiedergutzumachen, falls er überlebte.
Mousehole, April 1786
Susan betrachtete sich in einem Handspiegel und fragte sich, wo die Jahre geblieben waren. Vier Jahre war es her, seit sie Billy gesehen hatte. Alle ihre Besuchsgesuche waren abgelehnt worden, und obwohl sie Pakete geschickt hatte, war kein Lebenszeichen von ihm gekommen.
Sie legte den Spiegel hin und verdrängte Billys Schwierigkeiten, denn heute wurde ihre Tochter vierzehn Jahre alt, und sie musste ein Fest ausrichten. Sie erhob sich, strich die Falten aus den Röcken und genoss es, die lavendelfarbene Baumwolle unter den Fingern zu spüren. Das Kleid war neu, eigens für diesen Tag angefertigt, und sie wusste, es stand ihr gut, denn es betonte das Blau ihrer Augen und die schmale Taille. Als sie in die dazu passenden Schuhe schlüpfte und ihren Fächer zur Hand nahm, hörte sie die Stimmen unten im ummauerten Garten und trat ans Fenster, um hinauszuschauen. Die Familie versammelte sich, und sie müsste sich beeilen, um bei ihnen zu sein, doch im Augenblick zog sie es vor, hier oben innere Einkehr zu halten.
Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt konnte sie Ezra sehen: Er war vertieft in eine Unterhaltung mit seinem Bruder Gilbert, der gerade mit seiner Frau Ann aus London eingetroffen war. Es war eine Überraschung für sie gewesen, als die beiden vor drei Jahren geheiratet hatten, nicht zuletzt für Ann, denn sie hatte sich, wie sie Susan gestanden hatte, immer für eine ziemlich gewöhnliche Frau gehalten, die dazu bestimmt war, eine alte Jungfer zu werden; und plötzlich, als sie im fortgeschrittenen Alter von dreißig Jahren war, hatte der schmucke General Collinson ein Auge auf sie geworfen.
Susan schmunzelte. Anns Heirat mit Gilbert war für beide vorteilhaft gewesen, und obwohl ihre Vereinigung zu spät für eine Elternschaft kam, war Gilbert offensichtlich sehr um seine Frau bemüht. Aus ihrem Briefwechsel wusste Susan, dass Ann die Kinderlosigkeit zwar bedauerte, es dafür aber sehr spannend fand, Gilbert quer durch das britische Weltreich zu folgen.
Jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Maud, die in einem Rollstuhl auf dem Rasen saß und Befehle an die Haushälterin ausgab. Ihr schwacher Gesundheitszustand hatte schließlich seinen Tribut gefordert: Sie konnte nicht mehr laufen, doch hinter ihrer zerbrechlichen, vogelähnlichen Gestalt verbarg sich ein eiserner Wille, der besonders Kindern Respekt einflößte. Gerade wurde Krocket gespielt, und eine schnatternde Mädchenschar saß unter dem Baum und machte den jungen Offizieren, die Gilbert mitgebracht hatte, schöne Augen. Ein paar Jungen alberten herum und fingen sich eine strenge Ermahnung von Maud ein.
Susan seufzte zufrieden. Das Wetter hatte gehalten, obwohl es erst Anfang April war, und der Tee wurde auf Tischen serviert, die mit schneeweißem, sich in der vom Meer her wehenden Frühlingsbrise aufbauschendem Leinen gedeckt waren. Das Pfarrhaus war nicht mehr düster, sondern belebt von Farben, Lärm, dem Flattern hübscher Kleider und scharlachroter Uniformen.
Während sie das wechselhafte, bunte Kaleidoskop im Garten unter sich beobachtete, schien Ezra sich ihrer Gegenwart bewusst zu werden und schaute zum Fenster hinauf. Sein Lächeln zeugte von seinem Glück, und ihr wurde warm ums Herz. Die sechzehn Ehejahre hatten ihr in der Tat eine Zufriedenheit gebracht, die im Lauf der Zeit, als sie ihm in der Gemeinde geholfen hatte, immer tiefer geworden war. Wenngleich Billy scharfsinnig genug gewesen war zu erkennen, dass sie ihren Mann niemals mit derselben Leidenschaft lieben könnte, die sie für Jonathan empfunden hatte, war sie entschlossen, dass er diesen Makel niemals an ihr bemerken sollte.
Sie erblickte ihre Tochter Emma, die dem jungen Leutnant beim Krocketspiel
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