Träume jenseits des Meeres: Roman
ausgesprochen kokette Blicke zuwarf. Emma war vor genau vierzehn Jahren zur Welt gekommen: Ihre wütenden Schreie, von erhobenen Fäustchen und strampelnden Beinen begleitet, waren Vorboten der Wutanfälle, die sie als Kind bekam, und der grenzenlosen Energie, die sie in ihre Arbeit an der von Ezra im Ort eingerichteten Schule steckte.
Sie hielt nach Ernest Ausschau und spürte das vertraute Gefühl des Verlusts. Er und sein Zwilling waren zwei Monate zu früh geboren, und Tom hatte die erste Woche nicht überlebt. Ernest war das friedlichste ihrer Kinder, und sie fragte sich oft, ob ihm der Zwilling wohl fehlen mochte, den er nie kennengelernt hatte. Er war dreizehn, und sein gutes Aussehen, gepaart mit schelmischem, scheuem Lächeln, schlug bei der weiblichen Bevölkerung des Ortes bereits ein, wenn er von seiner Arbeit auf dem Bauernhof in Land’s End nach Hause kam. Er hoffte, eines Tages einen eigenen Hof zu besitzen, und Susan wusste, dass dieses Leben zu ihm passen würde, denn er war kein Kopfmensch und mochte nichts lieber, als bei Wind und Wetter draußen zu sein und nach seinem Vieh zu sehen.
Sie sah ihm zu, wie er mit ein paar Mädchen schwatzte. Er war groß für sein Alter, seine Figur ließ darauf schließen, dass einmal ein breitschultriger Mann aus ihm würde, und sein helles Haar glitzerte golden in der Sonne, wenn er sich vorbeugte, um einem dem Mädchen zuzuhören.
Susan war überrascht, dass er es überhaupt geschafft hatte, herzukommen, denn für gewöhnlich war er in seine Arbeit vertieft und vergaß häufig wichtige Anlässe. Vielleicht war die Aussicht auf weibliche Gesellschaft eine Gedächtnisstütze für ihn gewesen.
Sie ließ den Blick weiter schweifen und richtete ihn auf die zwölfjährige Florence, die Tische und Stühle aufstellte. Florence war genau neun Monate nach ihrer Zeugung auf die Welt gekommen und die Tüchtigkeit in Person. Sie war ein kleiner Derwisch und stand ihrer Großmutter in nichts nach, wenn es um eine spitze Zunge und genaues Hinsehen ging, was angesichts ihrer Jugend fast schon beunruhigend war.
Susan schüttelte wehmütig den Kopf bei der Betrachtung ihrer Jüngsten. Das Kind mochte zwar eine jüngere Ausgabe von Maud sein, würde aber mit den Vorteilen, die Ezras Einkommen bot, nie in einer Fischerkate leben oder im Winter hungern und frieren müssen. Susan vermutete, dass Florence zur rechten Zeit einen wohlhabenden Mann finden würde, denn sie hatte bereits einen Hang zu den schönen Dingen im Leben erkennen lassen.
Florence war ein eigenartiges Wesen. Schon als Kleinkind hatte sie eine besondere Art, ihre Mutter anzustarren, was Susan immer bekümmert hatte. Es war, als würde Florence sie abschätzen und wäre nicht zufrieden mit ihr, und obwohl sie sich sehr bemühte, musste Susan erkennen, dass Florence sie eigentlich kaum brauchte. Ezra war der Einzige, der sie zu trösten vermochte, wenn sie weinte – der Einzige, an den sie sich wandte, wenn sie verletzt oder verstimmt war.
Nachdem sie den Garten noch schnell nach George abgesucht hatte, trat sie vom Fenster zurück. Er war nicht zu sehen, doch sie glaubte ihn zu hören. Missbilligend mit der Zunge schnalzend verließ sie das Schlafzimmer und eilte hinunter. Der Junge war viel zu ungestüm und hätte mit seinen elf Jahren viel mehr an seine Zeugnisse in der Schule denken sollen, statt wie ein Wilder herumzurennen und nur Unfug im Sinn zu haben. Der Leiter des Steinbruchs war bereits bei ihnen gewesen, um sich über ihn und ein paar andere Jungen zu beschweren, die sich dort herumtrieben. Noch mehr Ärger hatte es mit den Fischern gegeben, als die Jungen alle Netze und Hummertöpfe in einem stillgelegten Schacht versteckt hatten. Ezra hatte ihm nur widerwillig mit einem Stock aus dem Schulhaus den Hosenboden versohlt, aber es hatte nicht viel geholfen, und Susan machte sich Sorgen; Georges Verhalten erinnerte sie nur zu gut an Billy, als er im selben Alter war.
Billy war noch immer auf einem Gefangenenschiff in Plymouth eingesperrt und hatte weitere zehn Jahre vor sich. Die Gerüchte, dass er nach Amerika deportiert werden solle, hatten sich nach dem Unabhängigkeitskrieg in Wohlgefallen aufgelöst. In gewisser Weise war sie froh darüber, denn damit blieb er in Reichweite und musste nicht aufs Meer hinaus.
Sie und Ezra waren seiner Bitte nicht nachgekommen, sich fernzuhalten, und obwohl sie ihn nicht hatten sehen dürfen, waren sie entsetzt über die Bedingungen, unter denen er lebte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher