Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
Vom Netzwerk:
das? Wir könnten in die Dörfer gehen, wo diese Kinder leben. Wie der Junge eben. Da ist so viel zu tun. Ich kenne unzählige Projekte. Um diese Dinge wird viel Trara gemacht. Ich habe Delhi satt. Du könntest über Hilfsprojekte schreiben, wenn es sein muss. Das verkauft sich immer gut. Und es würde echt helfen.«
    Sie lachte über sein erstauntes Gesicht. »Und wenn dir wirklich so viel an der Kleinen aus Boston liegt, ich meine, wenn sie nicht bloß ein Zeitvertreib für dich ist, dann lass sie doch herkommen und mit uns zusammenarbeiten. Je mehr wir sind, desto besser. Was kümmert es dich, was Albert zum Schluss getrieben hat? Er hatte ein gutes Leben, er hat seine Qualen und Widersprüche ausgekostet. Ich kann verstehen, dass man über seine Theorien schreibt, aber keine Biografie. Lass es sein.«
    Sie holte Luft. Sie sprach voller Überzeugung. »Komm schon, Paul.« Sie schob eine Hand über den Tisch und legte sie auf seine. »Komm mit mir in die Dörfer, schau dir das wirkliche Leben an. An einen Ort, wo wir wissen, was zu tun ist, und es tun. Das ist das Leben. Es wäre eine Offenbarung für dich.«
    Paul fand es zunehmend schwieriger, seine Selbstsicherheit zu wahren; er hatte Boston verlassen, und jetzt verlangte sie von ihm, seine Arbeit aufzugeben, im Grunde genommen sich selbstaufzugeben. Er zündete sich eine Zigarette an und hob die Hand, um noch etwas zu trinken zu bestellen, während sie weitersprach.
    »Du wirst Dinge sehen, die du dir niemals vorgestellt hättest. Und du würdest wissen, dass du etwas Gutes tust. Ich bin sicher, tief im Innern wünschst du dir das. Oder etwa nicht? Du kommst aus einer religiösen Familie. Wenn du siehst, wie jemand sich von TB erholt, wenn du siehst, dass jemand in der Lage ist, zu leben und zu lieben, weil du etwas Bestimmtes getan hast, dann wirst du dich fantastisch fühlen. Später, wie gesagt, kannst du sogar Geld verdienen, indem du darüber schreibst. Warum nicht? Die Leute werden sich viel mehr für so etwas interessieren als für einen alten Exzentriker wie Albert.«
    Paul blies Rauch aus. Sein Widerstand kam ganz automatisch. Er seufzte. »Helen«, sagte er schließlich, »Helen, ein Mann stirbt nicht einfach ganz plötzlich im Bett an Prostatakrebs. Oder? So läuft das nicht.«
    Sie zog ihre Hand weg und lehnte sich zurück.
    »Ich meine, ich habe darüber nachgedacht. Es hätte eine lange Leidensphase geben müssen, in der er bettlägerig war, in der er Hilfe und Pflege brauchte.«
    »Ich möchte in Ruhe meinen Drink genießen«, sagte sie trocken. »Ich hatte einen harten Tag.«
    Paul betrachtete sie. Er war zufrieden mit sich, weil er einem schwierigen Gespräch die richtige Wendung gegeben hatte, aber er kam sich auch brutal vor. Dann fragte er sich, ob er nicht eher von dem Wunsch getrieben wurde, diese Frau zu knacken, als von dem tatsächlichen Bedürfnis nach Information. Er war in etwas hineingezogen worden, etwas Ungewöhnliches. Sie schwiegen eine Weile, sodass ihm das Geplapper um sie herum bewusst wurde. Zwei hübsche Mädchen führten ein vertrauliches Gespräch. Über Männer, dachte Paul sofort.
    »Zwei meiner Patienten sind heute gestorben«, erzählte sie ihm.
    »Das tut mir leid.«
    »Eine war ein Mädchen mit Blutungen; sie lag im Wartezimmer auf dem Boden, als ich ankam. Sie muss in der Nacht ein Kind zur Welt gebracht haben. Sie ist verblutet. Wir konnten nichts mehr tun, außer aufwischen.«
    Paul wartete einen Moment. »Kommt so etwas öfter vor?«
    »Es ist nicht total ungewöhnlich.«
    »Glaubst du, sie hat die Schwangerschaft geheim gehalten und das Baby getötet?«
    »Ich glaube gar nichts«, sagte Helen eisig.
    »Und der andere Fall?«
    »Der andere war ein alter Mann mit Darmkrebs. Er wollte zu Hause sterben, aber seine Verwandten haben ihn zu uns gebracht, weil es ihnen zu viel wurde. Was in Indien schon viel aussagt.«
    Sie schaute ihn an.
    »Paul, das war die Situation, die Albert um jeden Preis vermeiden wollte: das Endstadium. Er wollte nicht mal annähernd so weit kommen. Die Schmerzen, die er hatte, waren schon schlimm genug für ihn: die häufigen Gänge zur Toilette, das ständige Gefühl, blockiert zu sein. Verstehst du? Oder muss ich dir genau sagen, welche Dosis wir den Patienten verpassen, wenn es so weit ist?«

21
    Helen und Paul gingen langsam durch die warme Abendluft in Richtung India Gate. Irgendwann hakte man sich unter. Eine seltsame Mischung aus Feierlichkeit und Unbeschwertheit war über sie

Weitere Kostenlose Bücher