Traeume von Fluessen und Meeren
veränderst dich gerade.« Sie zögerte. »Weißt du noch, ich habe mal gesagt, du seist wie mein Bruder.«
Paul nickte.
»Mein Bruder war, und ist es wahrscheinlich immer noch, zielstrebig bis zum Gehtnichtmehr. Fast schon brutal. Er hat jeden rücksichtslos überrannt. Er hat meine Mutter wie einen Fußabtreter behandelt, und sie hat ihn dafür geliebt. Ich habe ihn gehasst. Er hat mich in meiner Antihaltung bestätigt, weil er verstanden hat, dass sie mich aus der Familie ausschließen würde und er dann die volle Kontrolle über das Geld meiner Eltern haben würde. Und so kam es auch sehr bald. Mit Anfang zwanzig hat er das Leben einer guten Freundin von mir zerstört. Er hat sie benutzt und sie dann sitzen lassen, schwanger und kurz vor dem Verrücktwerden.«
Helen lächelte sarkastisch. »Verzeih mir bitte, aber ich dachte, du seist auch so einer und Albert wäre für dich nur ein opportunistisches Projekt, mit dem du auf der New-Age-Welle reiten willst, um berühmt zu werden. Aber jetzt sehe ich, dass ich unrecht hatte. Ich sehe, dass Albert dein Selbstbewusstsein in jeder Hinsicht untergräbt. Das hat er mit allen gemacht. Du bist bereits verwirrt. An deiner Stelle würde ich das Buch vergessen und sofort nach Hause fliegen.«
Paul musste sich kurz sammeln. »Helen, vergiss einfach meine Motive, okay, und konzentriere dich auf das Wesentliche. Beim Lesen dieser Briefe habe ich den Eindruck gewonnen, dass ein Widerspruch in Alberts Kopf sich einem Höhepunkt näherte: Einerseits wollte er abtauchen, andererseits schien er unter einer Art Zwang zu stehen, die Welt zu retten oder so etwas.« Paul hielt inne. »Ich denke, vielleicht hatte er Angst vor seiner eigenen Courage. Ich kann es nicht genau erklären.«
»Wie gesagt«, sagte Helen. »Albert war gar nicht so unglücklich über seine Krankheit. In gewisser Hinsicht war sie für ihn ein willkommener Nervenkitzel. Ich habe dir auch schon erklärt, dass du für dein Buch bei seiner Familie anfangen solltest.«
»Aber seine Familie warst du.«
Helen gab keine Antwort.
»Und ist er in den Ashram von diesem Mann gefahren, dem, der den langen, handgeschriebenen Brief geschickt hat?«
»Welcher Mann?«
»Dr. Radha Ladi-irgendwas?«
»Das ist ein Frauenname«, sagte Helen lachend. »Albert liebte Ashrams. Vermutlich ist er tatsächlich hingefahren. Im Dezember war er ein paar Tage weg, wenn ich mich recht entsinne. Fahr doch selber hin und finde es heraus.«
»Nachdem ich den ayurvedischen Arzt besucht habe?«
»Erinnere mich daran, dir die Adresse zu geben. Zweifellos ein Scharlatan.«
Sie waren sich jetzt beide einer machtvollen Spannung bewusst, unter der sie in einem nicht erklärten Spiel die entscheidenden Züge machten. Aber während Paul spürte, dass Helen ihn völlig durchschaute – und er hatte rein gar nichts zu verbergen –, blieb sie für ihn völlig rätselhaft. In ihren blassen Lippen und graugrünen Augen lag mehr Eigenwilligkeit als in denen jeder anderen Frau, die er kannte.
Wie immer schaute Helen weg. In dem Wissen, dass er über sie nachdachte, ließ sie ihren Blick durch das wohlbekannte Café schweifen. Dort saßen Halbwüchsige in europäischer Kleidung, aßen Snacks und tranken Coca-Cola. Drei wohlhabende Frauen in opulenten Saris steckten über ihren Eisbechern die Köpfe zusammen. Es war ein teures Café. Dann ging urplötzlich die Tür auf, und ein kleines Kind kam hereingerannt. Nackt, dünn wie ein Strich, mit zerzaustem Haar und schmutzigen Füßen lief der Junge fingerschnippend zwischen den Tischen hindurch und lachte dabei die Gäste an. Neben Paul blieb er stehen und rief: »Ja! Ja! Ja!« Er hatte die Zähne gefletscht und wirkte wie besessen. »Buh, buh, buh!« Der Kopf des Jungen wackelte wie verrückt hin und her, nur Zentimeter von den Augen des Amerikaners entfernt. Der kindliche Brustkorb hob und senkte sich.Der Besitzer des Cafés erschien und brüllte etwas; der Junge drehte sich um, kreischte vor Lachen und rannte wieder nach draußen in die Hitze.
»Was sollte das denn?«, fragte Paul. Er war fassungslos.
»Vermutlich wollte er nur mal sehen, wie es hier drinnen so ist.« Helen schmunzelte. »Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!«
Der Vorfall schien sie erheitert zu haben. »Hör zu, Paul«, sagte sie. »Mein Schatz«, fügte sie ironisch hinzu. Ausnahmsweise schaute sie ihm direkt in die Augen. »Warum lässt du Albert nicht in Ruhe, bleibst in Indien und arbeitest mit mir zusammen? Wie wäre
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