Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
Vom Netzwerk:
die Wärme ihrer letzten Umarmung. Der harte Boden des Parks schmolz unter ihren Hüften und Schultern dahin. Nur der Finger dieses Amerikaners, der ihren Arm berührte, sorgte dafür, dass ein Teil von ihr oben schwamm, anwesend blieb. Im Versinken hätte sie gerne alles Mögliche erklärt. Tatsächlich hatte sie ihm nur sehr wenig gesagt. Aber er würde alles aufschreiben. Sie hätte ihm gerne erzählt, wie wunderschön es war. Aber dann hätte sie auch von dem Elend erzählen müssen, das dem voranging.
    Mit entrückter Stimme murmelte sie: »Eine lange Ehe kann manchmal auch zur Belastung werden.«
    »Ebenso eine kurze«, gab er sogleich zurück.
    »Wenn man dauernd umherzieht, an den Orten lebt, an denen wir gelebt haben, dann verlässt man sich in allem nur aufeinander. Alles wird in die eine Person, den anderen, investiert. Manchmal ist das unerträglich. Besonders, wenn der andere sich verändert, oder wenn man selbst sich verändert.«
    Paul sagte nichts. Er hatte schon früher gespürt, wie ihre Gespräche sich wandelten und kreisten. Vielleicht sollte er einfach gar nichts mehr sagen.
    »Es war nicht immer leicht«, sagte sie.
    Abgetaucht in die Dunkelheit hinter ihren Augenlidern wartete sie auf seine Frage. Der Biograf würde Einzelheiten hören wollen. Als Paul nichts sagte, fuhr sie fort: »Manchmal fragt man sich in einer dreißigjährigen Ehe: Kann es wirklich so weitergehen, das ganze Leben lang ? Es wird zu einer Art Ewigkeit. Und einem Fragezeichen.«
    Er reagierte immer noch nicht. Sein Finger strich weiter langsam über die Innenseite ihres Unterarms, immer hin und her. Er hält mich hier fest, dachte sie, und dabei könnte ich in Alberts Umarmung versinken, meine Wange an seinem Stoppelbart reiben. Vage nahm Helen die Verkehrsgeräusche und das Lachen der Menschen wahr: die Verkäufer, das entfernte Flöten des Schlangenbeschwörers. Das Tier unten im Korb würde sich entrollen, sich hirnlos zu den lockenden Klängen des Klagelieds aufrichten, während sie in die Arme ihres sterbenden Mannes sank. Er war für sie so präsent, dass sie ihn fast spüren konnte. Wenn ich die Augen aufmache, wird er da sein, dachte sie.
    Aber der Finger war beharrlich, er wanderte zärtlich über ihren Unterarm. Er ließ nicht zu, dass sie versank. Die Geräusche wurden wieder lauter.
    Helen schüttelte leicht den Kopf und sagte mit festerer Stimme: »Außerdem hat Albert überall nach Mustern und Kurven gesucht.«
    Sie zögerte. »Er liebte das Wort Trajektorie.«
    Paul wollte nichts sagen. Ohne eine Frage, gegen die sie angehen konnte, war Helen unsicher; es war so, als ertaste sie sich einen Weg durch ein dunkles Zimmer. »Wie etwas endet, egal was«, murmelte sie, »zeigt einem, wie die Trajektorie verlaufen ist, wer eine Person war. Das hat Albert immer gesagt. DieGestalt bleibt, wenn das Subjekt vergangen ist. Das bedeutete für ihn Form: die Gestalt von etwas Vergangenem.«
    Weiterhin keine Antwort von Paul. Er war sich sehr der Tatsache bewusst, dass er eine neue Karte entdeckt hatte, die er ausspielen konnte. Schweigen. Er fühlte sich stark und spürte zugleich eine stärkere Anziehung als je zuvor.
    »Komisch, über solche Dinge zu reden, nicht?«, fragte sie. Ihr Tonfall hatte sich verändert. »Daher kam übrigens auch seine Faszination für Shiva.« Einen Augenblick lang präsentierte sie wieder die Arbeit ihres Mannes auf Konferenzen, sie gab sich herablassend. »Schöpfer, Zerstörer. Die meisten Menschen sehen darin Gegensätze, aber für Albert war die Zerstörung nur die Vervollständigung der Schöpfung: wie das Zurechtschneiden eines Fadens auf die richtige Länge.«
    Wieder seufzte Helen. In ihrem Kopf schwollen die Geräusche der Außenwelt abwechselnd an und wieder ab, ähnlich wie das Rauschen einer Brandung. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Die Berührung des Mannes an ihrem Arm hielt sie hier fest, verhinderte, dass sie sich fallen ließ. Aber sie wollte ihn nicht anschauen. In gewisser Hinsicht war sie vor Monaten schon in der tiefen Stille ertrunken, die eingetreten war, nachdem Albert aufgehört hatte zu atmen, als die Umarmung langsam kühl wurde. Und so schön es ihr erschienen war, als er sie dazu überredete – kaum war sie allein, kaum waren seine Arme schwer und leblos geworden, begriff sie, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, eine furchtbare Verspottung. Es war der größte Fehler, den Helen James je gemacht hatte, die schlimmste Verspottung, der sie je zum Opfer

Weitere Kostenlose Bücher