Traeume von Fluessen und Meeren
Albert James noch im Jahre 2005 auf einer Konferenz in Kalkutta hatte sprechen hören: Entwicklungsmodelle für Indien, lautete der Titel. Dies war höchstwahrscheinlich die letzte Konferenz, an der James teilgenommen hatte.
Verehrter Professor James,
ich gehörte zu den zahlreichen Regionsdelegierten, die Ihren äußerst fachkundigen Vortrag über die Bedeutung der Flexibilitätswahrung in allen Bereichen menschlicher Aktivität gehört haben. Ich gestehe, während Ihrer langen Rede zweimal eingeschlafen zu sein (Sie werden sich erinnern, wie viele anspruchsvolle Vorträge es an diesem Tag gab, und leider bin ich auch nicht mehr ganz jung). Erst im Nachhinein, als ich mich an die Diagramme erinnerte, die Sie gezeigt haben, wurde mir die enorme Tragweite Ihrer Ausführungen bewusst: Jedes Mal, wenn wir rigide Verhaltensweisen erzwingen, beschneiden wir unsere Möglichkeiten, uns an sich verändernde Umstände anzupassen.
Darüber habe ich sehr lange nachgedacht, Professor James. Es ist eine wunderbar einfache Idee, die zunächst ganz unscheinbar daherkommt, die jedoch böse Folgen hat und die manche Leute sicherlich abstoßend finden werden. Denn was Sie eigentlich sagen wollen, so scheint mir, ist, dass so heilige Prinzipien wie individuelle Freiheit, Demokratie, Ehe, Monogamie, Religionsfreiheit, Respekt vor dem menschlichen Leben, alles »festgelegte« Verhaltensformen sind, die wir hinterfragen sollten, ehe sie uns ins Verderben führen.
Das ist ausgesprochen polemisch. Das sind sehr wichtige Prinzipien, die unsere gebeutelte multikulturelle Gesellschaft über viele Jahrzehnte und nur unter großer Anstrengung und mit harter Disziplin erlangt hat. Wenn gewöhnliche Menschen diese Prinzipien verwerfen, was wird dann aus ihnen werden? Was wird dann aus uns allen?
Aber das wissen Sie natürlich. Sie erscheinen mir als ein Mann von großer Weisheit, Professor James (einer Weisheit, die, wenn Sie mir die Freiheit gestatten, aus Ihnen selbst entspringt, nicht aus Ihren Worten). Dennoch sagen Sie, wir müssen uns daran erinnern, dass wir alles auf unterschiedliche Weise handhaben können; Sie sagen, nichts dürfe uns heilig sein, wenn wir überleben wollen.
Verehrter Professor James, ich wünschte wirklich, Sie hätten diese schwierige Frage für die Abgesandten und die anwesenden Regionalpolitiker Indiens deutlicher ausformuliert. Ihre Gedanken sind eine echte Herausforderung, aber Sie präsentieren sie auf eine Art, die es Ihren Zuhörern leicht macht, sich taub zu stellen oder gar einzunicken. Die Abgesandten hören Ihnen zu, ja sie sind fasziniert von Ihrer Ausstrahlung, aber gleichzeitig werden sie müde. Es gelingt Ihnen nicht, sie wachzurütteln.
Ich möchte Sie sehr gern in unseren Ashram (siehe Anlage) einladen, aber nur, wenn Sie bereit sind, unseren (etwa 300) Mitgliedern klare Antworten auf die Frage zu geben, wie eine künftige Entwicklung der Welt, die sich rasant verändert, am besten aussehen sollte. Am Ende Ihres Vortrags sagten Sie, ein möglicher Weg bestehe darin, »die ästhetische Form vom Virus der Zweckbestimmtheit zu heilen«. Erinnere ich mich recht? Das verstehe ich nicht ganz; wie gesagt, ich bin alt und werde vielleicht langsam dumm. Sie glauben doch sicher nicht, dass wir unser Leben mit der Betrachtung von Kunstwerken verbringen sollten?
Verehrter Professor, Sie sprechen in Rätseln. Das verheißt nichts Gutes. Womöglich haben Sie Feinde? Bitte kommen Sie nach Uttar Pradesh und erklären Sie uns, was Sie meinen. Ich spüre ganz intuitiv, dass es wichtig sein könnte.
Einstweilen verbleibe ich mit ergebensten Grüßen und voller Wissbegier,
Dr. Radha Ladiwale
Paul nahm die Kiste mit in das große Schlafzimmer, stieg auf einen Stuhl und stellte sie zurück auf den Schrank zu dem Staub und den Spinnweben. Beim Hinuntersteigen schaute er sich im Zimmer um. Wieder fiel ihm auf, dass es keine Fotos gab, nur das Bett, eine Kommode und den Schrank. Er schaute hinein. Der Boden eines Kleiderschranks ist immer ein beliebter Ort, um Sachen zu verwahren. Aber da war nichts. Nur Helens ordentlich aufgehängte Kleider. Paul ging sie durch: schlichte Kleider und Arbeitskittel. Zum ersten Mal sehe ich einen Kleiderschrank, dachte er, der einer Frau gehört und nicht bis oben hin vollgestopft ist.
Dennoch gab es auch ein paar elegante Sachen: ein langes Kleid aus türkisfarbenem Satin, ein schwarzes Minikleid. Paul zog es heraus und roch daran. Das musste sie getragen haben, als sie jünger
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