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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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wie gelähmt geschwiegen hatte, schließlich erklären, wie er sich hingehockt hatte, um sie vom Boden hochzuziehen, damit sie sich etwas anzog. Was ihn am meisten schockiert hatte war die Tatsache, dass sie nackt war. Nein, er konnte nicht sagen, wann ihm klar wurde, dass sie tot war. Vielleicht hatte er das selbst jetzt noch nicht ganz begriffen.
    Ja, er erinnerte sich an das Verhör, sagte John, und er hatte auch versucht zu antworten, aber er war »unter Wasser« gewesen, sagte er dem Beamten. Er konnte den Mund nicht öffnen. Die Empfangsdame im Hotel Govind, sagte John, würde bestätigen, dass er die Nacht in seinem Zimmer dort verbracht hatte und kurz nach sechs Uhr morgens weggegangen war. Er war nach Delhi gekommen, um seine Mutter zu treffen, das stimmte, aber dann war er nicht direkt zu ihr gegangen, weil er sich vor der Begegnung gefürchtet hatte. Er hatte sich nicht wohlgefühlt. Er konnte nicht genau sagen, warum. Es gab wichtige Dinge zwischen ihm und seiner Mutter zu besprechen. Nein, er konnte nicht sagen, was.
    »Warum haben Sie die Tür zum Behandlungszimmer Ihrer Mutter abgeschlossen?«, fragte der Beamte.
    Sie saßen sich an einem Tisch in einem Verhörzimmer der Polizei gegenüber. Ein Aufnahmegerät lief. John hatte das Angebot, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, abgelehnt. Er hatte nichts Unrechtes getan.
    »Habe ich abgeschlossen?«
    Der Beamte war entnervt. Es war das erste Mal, dass er mit einem Verbrechen zu tun hatte, an dem Europäer beteiligt waren.
    »Da sonst niemand im Raum war, Mr. James, jedenfalls keine lebende Person, müssen Sie wohl abgeschlossen haben. Es war nämlich abgeschlossen, und zwar von innen.«
    »Vermutlich wollte ich sie für mich alleine haben«, sagte John schließlich. Er zögerte: »Wissen Sie, es waren so viele Patienten draußen auf dem Flur. Meine Mutter war immer sehr damit beschäftigt, anderen zu helfen.«
    »Kennen Sie den Jungen, der bei ihr war?«
    John schwieg. Er schaute auf seine Knie. Schließlich sagte er: »Ich habe ihn noch nie gesehen.«
    »Sie wissen nicht, in welcher Beziehung er zu Ihrer Mutter stand?«
    »Nein.«
    Als er nach der Befragung in die Zelle zurückgebracht wurde, war John gar nicht mal unglücklich. Die drückende Hitze in dem engen, betonierten Raum machte ihm nichts aus. Auch nicht die starken, unangenehmen Gerüche. Er empfand es nicht als Skandal, dass man ihn festhielt. Er hatte kein Verlangen nach Gesellschaft. Er legte sich auf eine Pritsche. Sollen sich die Fliegen doch auf mein Gesicht setzen, dachte er, auf meine Lippen und mein Haar. Sie stören mich nicht. Er fühlte sich hier sicher, weit weg von der Gefahr, und vor allem erlöst von der Notwendigkeit nachzudenken. Ich werde nicht nachdenken, entschied er. Mir ist alles egal.
    Stattdessen hörte er den anderen Männern zu, diehereingebracht oder hinausgelassen wurden. Er hielt die Augen geschlossen, als würde er schlafen. Er lag still auf dem Rücken auf der dünnen Matratze, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Es gab sechs Pritschen in der Zelle. Irgendwann waren elf Männer im Raum. Die Betten knarrten. Ein Schlüssel drehte sich rasselnd im Schloss. Gefangene kamen und gingen, unter Protest. Es war angenehm, kein Wort zu verstehen. Sie plapperten und furzten und stritten sich und zogen Schleim durch die Nase hoch. Meinem Bauch geht es wieder gut, bemerkte John. Der Durchfall ist weg. Das Schlimmstmögliche ist geschehen, dachte er, und vorbei. Irgendwann fiel ihm siedend heiß ein, dass er einen Brief in der Hosentasche hatte, einen Brief, der nicht an ihn gerichtet war. Lieber Paul … Wer war dieser Mensch? Seine Gedanken verdüsterten sich. Er spürte, wie Angst in ihm hochstieg. Was, wenn man ihm seine Sachen abnahm? Bis jetzt hatten sie ihn nur nach Waffen abgetastet. Jedenfalls würde er den Brief nicht herausholen, er würde gar nicht an ihn denken. Ich werde mich einfach treiben lassen, beschloss er.
    John lag in der erstickenden Hitze des Nachmittags und dann die folgende lange Nacht lang leise atmend auf der harten Pritsche, und nach einer Weile kam es ihm so vor, als liege er nicht auf einem festen Bett, sondern schwebe in der Luft oder im Wasser. Er hatte das Gefühl, sich mal hierhin und mal dahin zu drehen, so als würde er von einer Strömung oder einer Flutwelle mitgetragen. Im Laufe der Nacht wurde ihm bewusst, dass seine auf dem Bauch gefalteten Hände tief in seinen Körper eingesunken waren; sie waren eins geworden mit seinen Gedärmen und

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