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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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»Pa-tai-yei, pa-taiyei.«
    Paul hörte zu, ohne etwas zu verstehen. »Ma-tai-yei!« Warum hatte er von einer rufenden Stimme geträumt? fragte er sich. Indien war voll von dringlich rufenden Stimmen. Ein Überbleibsel aus seiner religiösen Kindheit vielleicht? Rufe, Pflichten. Dann, als hätte ihn jemand körperlich angestubst, fiel ihm Helens Geschichte von der Delle in der Tischplatte ein, die Steinelefanten und das merkwürdige Benehmen ihres Sohnes. Nun war er also doch in Delhi. Plötzlich war Paul hellwach. Die Kerze war umgekippt und hatte ihm die Hand verbrannt. »Meinst du, er wollte mich umbringen?«, hatte Helen gefragt. Die Frage war ihm absurd vorgekommen, melodramatisch, sie passte gar nicht zu ihr. Aber jetzt war etwas passiert. Eine sehr ernste Angelegenheit. »Ma-ti-alli-yei!«, rief die Stimme. »Pa-tai-yei!«
    Fünf Minuten waren vergangen. Paul lauschte und merkte, dass der Beamte auf dem Flur nicht mehr sprach. Was zum Teufel geht hier vor? Er sprang auf. Der junge Polizist hob den Blick. »Ich muss auf die Toilette«, sagte Paul.
    Der Mann schien zu zögern. »Sie müssen warten«, sagte er.
    »Delhi-Bauch«, erklärte Paul. »Es ist dringend.«
    Er lief eilig in den Flur. Die Leute drängelten sich in Schlangen oder liefen auf und ab, aber der Beamte war nicht zu sehen. Ich muss Helen suchen, entschied Paul. Er öffnete eine Tür, erblickte einen dunklen Schrank und schloss die Tür wieder.
    »Wo ist die Krankenstation?«, fragte er einen Mann mit Besen und Servicewagen. Ohne stehen zu bleiben, zeigte der Mann ihm die Richtung. Paul lief schnell den Flur entlang, bog um eine Ecke und sah eine breite Doppeltür. Bestimmt war sie dort. Er hätte sofort zu ihr gehen sollen, gleich nachdem er die Klinik betreten hatte. Paul stieß die Tür auf.
    An jeder Seite des großen Raums stand eine Reihe Betten. Die Luft war säuerlich, es roch stark nach Chemikalien und Erbrochenem. Im dritten Bett auf der linken Seite lag ein Mann und würgte. Neben ihm stand eine Schwester, eine ziemlich dicke junge Frau, die seinen Kopf über eine Plastikschüssel hielt. Der Mann war Mitte vierzig, hatte dünnes, schweißverklebtes Haar, blutunterlaufene Augen und spannte bei jedem Krampf, jedem Versuch zu erbrechen, den Hals sichtbar an. Die Schwester sprach leise mit ihm, ihr Gesicht war dicht an seinem.
    Wieder würgte der Mann. Ein Schleimfaden lief ihm aus dem Mundwinkel übers Kinn und dann auf seinen Ärmel. Die Schwester redete mit sanfter Stimme auf ihn ein. Die anderen Patienten, die in ihren Betten lagen, hatten sich abgewandt. Einer las in einer Zeitschrift. Eine ältere Frau hatte sich aufgesetzt, um an einer Stickerei zu arbeiten, einem breiten, seidenen Stoff in Blau- und Grüntönen. Ihr schien das Husten und Spucken egal zu sein.
    Plötzlich wurde der ganze Körper des Mannes von einem Krampf geschüttelt, und ein Schwall ergoss sich aus seinem Mund. Das Erbrochene war unerwartet dunkel. Paul hörte, wie es in die Plastikschüssel prasselte und platschte. Es musste der Krankenschwester ins Gesicht gespritzt sein, dachte er.
    Der Patient würgte erneut, diesmal jedoch umsonst. Die Schwester war jung; sie hielt seinen Kopf ganz fest in ihren molligen Händen und redete freundlich mit ihm. Bihar, dachte Paul. Er war zugleich fasziniert und angewidert. In Bihar wirst du seinen Kopf halten. Du wirst mit Erbrochenem bespritzt werden. Warum? Warum willst du das machen?
    »Mr. Roberts?«
    Als sein Name zu Paul durchgedrungen war, drehte er sich um.
    »Mr. Roberts, ich war dabei, Sie zu einem Verbrechen zu befragen. Warum sind Sie weggegangen? Möchten Sie, dass ich Sie verhafte?«
    »Ich muss mit Helen sprechen«, sagte Paul.
    Der Beamte kniff die Augen zusammen. Er schien den Amerikaner abzuschätzen. »Folgen Sie mir«, sagte er.
    Wieder wurde Paul den Flur entlanggeführt. Diesmal bogen sie nach links ab. Kurz darauf erkannte er Helens Behandlungszimmer und sah sofort, dass das Holz der Tür um das Schloss herum abgesplittert war.
    »Was ist los?«
    Ein Polizist mit einem Gewehr ließ ihn über die Schwelle treten.
    »Sie können bis zum Band gehen, aber nicht weiter«, wies der Beamte ihn an. »Wir warten auf einen Fachmann, um hier alles zu untersuchen.«
    Das Rollo war hochgezogen und der Raum lag in vollem Sonnenlicht. Paul trat an ein rot-weißes Absperrband, das von einem Schrank auf der linken Seite bis zum Griff der Verandatür auf der rechten gespannt war. Hinter dem Band stand ein großer

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