Traeume von Fluessen und Meeren
Schreibtisch, aber als er einen Schritt nach rechts machte, sah Paul die Körper von zwei Menschen, die zu beiden Seiten einer dünnen Matratze lagen. Hinter der Matratze lag ein ausgemergelter Teenager in grauweißer Unterhose; sein Kopf war in den Nacken gefallen, die Augen geschlossen, der Mund zu einem gequälten Lächeln verzogen. Vor der Matratze lag in einem Sonnenstrahl Helens Leiche, mit obszön ausgebreiteten Gliedmaßen, so als habe man sie für einen besonders fiesen Pornofilm positioniert. Die weiße Haut war vom Gesicht bis zu den Knien seltsam fleckig, die gespreizten Glieder wirkten verdreht, der Bauch leicht geschwollen.
Unwillkürlich hob Paul eine Hand an den Mund. Er konnte nicht hinschauen und er konnte auch nicht wegschauen. Der Leichnam forderte seinen Blick und wies ihn gleichzeitig zurück. Er wirkte so viel größer, länger, weißer, präsenter – unmittelbar und physisch präsent –, als ein lebendiger Mensch es je sein konnte.
»Helen«, murmelte er.
»Wie bitte?«, fragte der Beamte.
Der Tonfall des Mannes war scharf. Er beobachtete Paul genau, aber Paul beachtete ihn nicht. Er war nicht in der Lage, von hier aus nach vorne zu schauen, auch nicht zurück, nicht weg von diesem Leichnam. Das glänzende polizeiliche Plastikband hielt ihn davon ab, näher heranzugehen. Aber er konnte sich auch nicht umdrehen und weggehen. Er konnte überhaupt nicht denken. Ihre Brüste waren flach und unförmig, ihre Scham im hellen Morgenlicht brutal entblößt. Gestern noch hatten sie zusammen im Bett gelegen.
»Ihr Sohn war dabei, ihr ins Gesicht zu schlagen, als wir die Tür aufgebrochen haben«, verkündete der Beamte. Es schien ihn zu befriedigen, den Amerikaner schockiert zu sehen. »Er hat sich geweigert, die Tür zu öffnen.«
»Ihr Sohn war hier?«
»Ja.«
»Und hat ihr ins Gesicht geschlagen?« Paul verstand nichts. »Aber wer ist der Junge? Was ist passiert?«
»Der junge Mann ist ein Patient des Krankenhauses.«
»Ein Patient?«
»Mr. Roberts, jeder Sohn wäre wohl außer sich, wenn er seine Mutter in unbekleidetem Zustand mit einem unbekannten Jungen vorfinden würde. Meinen Sie nicht? Es ist sehr klar, was passiert ist. Leider weigert sich John James, unsere Fragen zu beantworten. Also –«
»Aber woran sind sie gestorben? Er kann sie doch nicht einfach –«
Auf dem Flur waren jetzt verärgerte Stimmen zu hören. Beide drehten sich um. Man hörte Schritte, und irgendetwas knallte. Obwohl sich alles auf Hindi abspielte, erkannte Paul jemanden. Diese Stimme hatte er schon einmal gehört. Ein Mann brüllte, protestierte, empörte sich. Andere Stimmen erhobensich gegen ihn. Der ganze Flur hallte. Der Streit kam näher. Ein lauter Schrei, dann stürmte Kulwant Singh herein. Sein bärtiges Gesicht wirkte verstört, die Augen blitzten, der schwarze Turban saß nicht ganz gerade auf dem runden Kopf. Er wehrte alle Versuche, ihn zurückzuhalten, ab, steckte sogar einen Schlag mit dem Gewehrkolben ein, hob das Plastikband hoch, ging geduckt darunter hindurch und brüllte augenblicklich vor Schmerz auf. »Helen!«, schrie er. »Nein!«
Drei Polizisten wollten ihn packen, aber Kulwant war bereits neben der Leiche. Er schrie. Sein Kopf war neben ihrem. Er griff nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, stieß den Arm wieder von sich und presste den ganzen Körper an sich. »Nein!«, schrie er noch einmal.
Paul schaute zu, beschämt von der Kraft und der offensichtlichen Trauer des größeren Mannes. Kulwant umarmte den nackten Leichnam in einem Rausch der Verdrängung. »Nein, nein, nein!«, rief er immer wieder. Der Beamte schrie ihn an. Er verwischte Spuren eines Verbrechens. Schließlich gelang es den beiden jungen Polizisten, Kulwants Arme zu ergreifen, ihn zu zwingen, die Leiche loszulassen, und ihn zurückzuzerren. Der Sikh zitterte heftig, seine fleischigen Lippen bibberten in dem ergrauten Bart. Eine Tirade auf Hindi strömte aus ihm heraus. Seine Augen standen voller Tränen.
Paul hörte zu. Er verstand kein Wort, verstand nur, dass Kulwant gefühlsmäßig tief mit Helen verbunden war, ganz anders als er selbst. Der Mann empfand unglaublich viel für sie. Jetzt gab es ein Hin und Her zwischen dem Beamten und dem Sikh. Kulwant schien zu erklären, wer er war und warum er hier war. Als der Beamte ihn unterbrach, antwortete Kulwant ihm barsch. Aus seiner Stimme sprühte Verachtung. Der Mann schüchterte ihn kein bisschen ein. Einen Moment lang drehten und wanden sich seine
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