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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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bisschen beunruhigt. Was würde im Labor passieren, wenn er nicht da war, um alles zu überwachen? Er war der Einzige, der immer vor Ort war.
    Er ging ins Gästezimmer, holte seinen Laptop hervor und scrollte durch die Liste mit den Testergebnissen. »Wie lief das Vorsprechen?«, schrieb er per SMS an Elaine. »Hier alles ok, Mum will unbedingt zeigen, dass sie alles im Griff hat.«
    Das Mädchen antwortete nicht. John zog eine Zeitschrift über Kommunikationstheorie hervor. Es gab kein Stückchen Wand ohne Bücherregal, und jedes Buch und jede Zeitschrift war mit dem Gekritzel seines Vaters übersät. Manche Wörter waren unterstrichen, manche durchgestrichen. Die Kommentare an den Rändern reichten an einigen Stellen bis ins Gedruckte hinein. Nicht immer schienen sie viel mit dem Text zu tun zu haben, neben dem sie standen. An den Rand eines Artikels mit derÜberschrift Kybernetik und Wirbellose hatte Albert James » AM ANFANG UND AM ENDE ATMEN « geschrieben. Und darunter in winziger, sehr schiefer Handschrift: »Alkohol am Abend ist ritueller Ersatz für das, was nicht passiert ist. Aber was?«
    John schüttelte den Kopf. Genau dieses Abschweifen hatte seinen Vater immer davon abgehalten, etwas Konkretes zustande zu bringen. Mutter veränderte durch ihre Diagnosen und Medikationen wenigstens Tag für Tag das Leben von Menschen. In der Mitte eines Artikels über Auffälligkeiten der linken Gehirnhälfte bei chronisch Schizophrenen stieß er auf die Notiz: »Kein WISSEN! Nur Beobachtungen und Geschichten!«
    Wieder runzelte John die Stirn. Vielleicht war das eigentliche Problem seines Vaters, dachte John, seine Schwierigkeit gewesen, im Team zu arbeiten und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen – etwas, das heutzutage unverzichtbar war, allein schon wegen des riesigen Arbeitsaufwands, der nötig war, um irgendetwas zu erreichen. Man musste ein Glied in einer größeren Kette sein, seinen Beitrag leisten. Dad jedoch war immer alleine unterwegs gewesen, hatte die ganze Welt selbst erklären wollen.
    Obwohl er nicht richtig müde war, legte sich John auf das schmale Bett und wartete auf den Schlaf. Es war unmöglich, auf nützliche Weise über seine Arbeit nachzudenken, ohne im Labor zu sein. Die kleinsten Teilchen zerlegen, noch kleinere isolieren und manipulieren, selbst unvorstellbar winzige Spiralen von DNA, RNA, Ribosomen, jedes einzelne Phospholipid: Nur so kam man voran. So versorgte man Menschen wie seine Mutter mit neuen Medikamenten. Nicht, indem man seltsame Gedankengänge in anderer Leute Publikationen kritzelte. John fühlte sich unwohl. Er war enttäuscht, seinen Vater nicht gesehen zu haben. Wofür sonst war er hergekommen?
    Dann träumte er plötzlich. Es war ein unruhiger Schlaf. Im Traum lief er die gleichen breiten Straßen entlang wie am Morgen, aber er trug eine normale, sogar ziemlich eleganteLedersandale, während der Zeh seines anderen Fußes in einem winzigen weißen Kinderschuh steckte, einem Kleinmädchenschuh anscheinend, den er über den Bürgersteig schleifte, denn sein Fuß hätte unter gar keinen Umständen ganz hineingepasst. Was ihn besonders ärgerte – es war ein wütender Schlaf – war, dass er, als der indische Verkäufer im Flughafenshop ihm erklärte, sie hätten nur eine rechte Sandale in seiner Größe da und es sei das Beste, wenn er dieses seltsame kleine weiße Mädchending für den linken Fuß dazunähme, diesen bescheuerten Vorschlag angenommen hatte. Wie blöd kann man eigentlich sein! Wenn man von irgendetwas zwei braucht, mein lieber John, und zwar in der gleichen Größe, dann ja wohl von Schuhen! »Symmetrie!«, hat Dad immer gesagt: »Der Kern des Lebens ist die Symmetrie!« Und während John zwischen Bettlern hindurch neben den hupenden Autos und aufdringlichen Rikscha-Fahrern den schadhaften Bürgersteig entlangschlurfte, war er hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, zurück zu dem Laden zu gehen und sich zu beschweren – denn immerhin hatte er siebzehn Pfund für die Dinger bezahlt, siebzehn Pfund vom Geld seiner Eltern! –, und dem Wunsch, sich auf den Weg zu den Sufi-Gräbern zu machen, wo er den Leichnam seines Vaters zum letzten Mal sehen würde.
    »John!«, flüsterte eine Stimme. »John. Zeit zum Aufstehen.« Seine Mutter rüttelte an seiner Schulter. Die Trauerfeier war um zehn.

3
    Elaine hatte John daran erinnert, einen schwarzen Anzug mitzunehmen. John besaß keinen Anzug. Er hatte ein dunkelblaues Jackett ausgegraben. Elaine hatte ihm beim Packen

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