Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
Vom Netzwerk:
baufälliger, niedriger Ziegelsteinbauten, zwischen denen sich Frauen mit Obstkarren drängten. »Die Christen hier sind allerdings eher gegen die Einäscherung«, fuhr sie fort. »Sie beharren auf den Bibelstellen, die besagen, dass der Körper bis zum Tag der Auferstehung intakt bleiben muss. Aber das eigentliche Problem ist wahrscheinlich, dass die Einäscherung ein hinduistischer Brauch ist. Den Christen würde es leichter fallen, sie zu akzeptieren, wenn die Hindus es anders machen würden, verstehst du?« John erkannte in ihren Worten die Argumentationsweise seines Vaters.
    »Und die Beisetzung findet dann auf dem Friedhof statt?«, fragte er.
    »Es gibt keine Beisetzung«, antwortete Helen. »Nicht in dem Sinne.«
    John war verärgert. So sollte der Tod seines Vaters nicht sein. Allerdings hatte er seine gesamte Kindheit in dem Wissen verbracht, dass andere Familien in einer Weise mit der Welt verbunden waren, die den James’ abging. Die James’ waren immer unterwegs, sie verfolgten eine Mission, sie forschten und halfen, wo sie hingingen, gehörten aber nirgendwo wirklich dazu. Das war nützlich, wenn man Mädchen damit beeindrucken wollte, an wie vielen verschiedenen Orten man aufgewachsen war. »Es ist mir ein Rätsel, wie du bei deiner Kindheit mit dem Leben in Maida Vale zufrieden sein kannst«, hatte Elaine kopfschüttelnd gesagt. Sie selber war wohlbehütet in Finchley aufgewachsen; ihre Eltern waren total dagegen, dass sie Schauspielerin wurde. John hätte ihr jetzt gerne eine SMS geschickt, aber es erschien ihm unangebracht, sein Telefon aus der Tasche zu ziehen, während er neben seiner Mutter saß und sie dem Sarg seines Vaters durch die verstopften Straßen von Delhi folgten. Neben ihnen rollte ein Mädchen mit ausgestreckten Armen einen gebrauchten Autoreifen am Bordstein entlang.
    Abgesehen von ein paar exotischen Pflanzen machte der Friedhof einen bemerkenswert englischen Eindruck: er war überwachsen und ungepflegt. Die Grabsteine mit den schmuddeligen Engeln, die steinerne Rollen mit komplexen schwarzen Inschriften in Händen hielten, wirkten ausgesprochen viktorianisch. Sogar das leicht diesige, kühle Wetter fühlte sich irgendwie englisch an; nur die Krähen waren hier eindeutig größer als in London. Als der Wagen durch das Haupttor fuhr, stoben die Vögel in einem Schwarm auf und kreisten mit so lautem Gekrächze über den Gräbern, dass sie das Hupen der Autos auf der Straße übertönten. Dann entdeckte John zwei, drei verhüllte Gestalten, die zwischen den Grabsteinen zu schlafen schienen. Hier und da hockten Frauen, die das struppige Gras mit Sichelnbearbeiteten. An einigen Stellen war die Erde rot und rissig, Wellblechteile lagen herum.
    Der Leichenwagen fuhr einen schmalen Weg an der Außenmauer entlang, bis er einen niedrigen Betonbau mit einem auffallend hohen Schornstein erreichte. Mum und ich sind die Einzigen, dachte John beim Aussteigen. Die Bestattungshelfer waren bereits dabei, den Sarg auf einen Rollwagen aus glänzendem Stahl zu schieben. Der Gedanke war bestürzend. Dad hatte Menschen geliebt.
    »Kommt sonst niemand?«, fragte er. Seine Mutter zog sich einen Schleier über die Augen. John sah erst jetzt, dass ihr Hut einen Schleier hatte. Ihr Anblick war filmreif, eine große, anmutige Frau, aufrecht und gefasst in ihrer Trauer. John kam sich vor wie ein Schauspieler ohne Rolle.
    Im Innenraum des Krematoriums standen ein Dutzend Bänke in engen, unordentlichen Reihen. Wie feucht es hier war. Im hinteren Teil des Raums war eine niedrige Bühne und darauf eine Art Theke mit Schienen, die auf einen dunkelroten Vorhang zuführten, der eine Öffnung in der Wand verdeckte. Helen James und ihr Sohn stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, als die Männer den Sarg hineinrollten. Er wirkte fehl am Platze mit der glänzenden Oberfläche und den Messingbeschlägen. »Hält denn keiner eine Rede?«, fragte John. Aber seine Mutter ging bereits hinter dem Rollwagen her, der auf dem Betonboden klapperte und quietschte. Die Bestattungshelfer unterhielten sich kauend.
    John, der jetzt fast in Panik war, ging hinterher. Dass sein Vater tatsächlich in dieser verschlossenen Kiste lag, war unvorstellbar. Ich hätte ihn noch einmal anschauen sollen, dachte er. Hätte mich verabschieden sollen. Wieso gab es keine Blumen? Indien war voll von Kränzen und Girlanden. Wieso hatte Mutter nicht veranlasst, dass der Leichnam nach London ausgeflogen wurde? Aus irgendeinem Grund hatte John

Weitere Kostenlose Bücher