Traeume von Fluessen und Meeren
geholfen. Er besaß auch keine Krawatte. »Ich habe seit meiner Schulzeit keine Krawatte mehr getragen«, sagte er. Er hatte dabei gelacht. Aber als er sich jetzt anzog, war er unsicher. Es wäre angemessen gewesen, zur Bestattung seines Vaters eine Krawatte zu tragen. Sollte er Mum fragen, ob es in der Wohnung eine gab? Seine Unsicherheit überraschte ihn. Wann habe ich mir je Gedanken um meine Kleidung gemacht? Dad war Kleidung immer egal gewesen. Sein Vater hatte mehr als einmal ein renommiertes Publikum brüskiert, indem er seinen Vortrag in einem alten T-Shirt ablieferte. Er trug immer dieselben Sachen. Diese Tatsache war in die Familiengeschichte eingegangen – hatte sich letztendlich tiefer eingeprägt als der Inhalt seiner Reden.
Was hatten sie Dad in seinem Sarg wohl angezogen, fragte sich John. Der Gedanke ließ ihn innehalten. Er holte tief Luft. Seine alten Jeans, bei denen immer der Reißverschluss aufging? Als er ins Wohnzimmer kam, fand er seine Mutter in einem sehr förmlichen schwarzen Kleid vor. Auch damit hatte er nicht gerechnet. Sie hatte sogar einen Hut aufgesetzt. Kappe war vielleicht das passendere Wort. »Kann ich so gehen?«, fragte er. »Wie meinst du das?« Helen James schob gerade ein paar Papiere in ihre Handtasche. Sie hatte gar nicht darauf geachtet, wie ihrSohn angezogen war. Von Frühstück war auch keine Rede gewesen. »Der Fahrer wartet«, sagte sie.
Erst im Auto fragte sich John, was für eine Trauerfeier seine Mutter wohl arrangiert hatte. Sie waren schließlich in Indien. Er hatte keine Ahnung, wie eine Bestattung in Indien aussah. Er hatte sich über die Bestattung seines Vaters nie Gedanken gemacht. Aber es würde bestimmt keine indische Bestattung werden, oder? »Hast du viele Leute eingeladen?«, fragte er. Helen James schien weit weg zu sein. Sie saß kerzengerade. »Ich frage mich nur, ob irgendwo eine Todesanzeige erschienen ist«, fuhr er fort. John dachte immer noch daran, dass er in der Leichenhalle darauf bestehen könnte, den Toten zu sehen. Er fand, er hatte ein Recht darauf und sollte nicht darauf verzichten.
»Wie bitte?«, fragte sie.
Der Wagen hatte vor einem Haus gehalten, das für John wie ein Eisenwarenladen aussah, sich aber als das Bestattungsinstitut entpuppte. Autos und Autorikschas parkten in zweiter Reihe, und seine Mutter sprang aus dem Wagen und durchquerte den tiefen Rinnstein, um mit einem gepflegten älteren Mann zu reden, der zu seinem weiten schwarzen Zweireiher eine unpassende gelbe Wollmütze und gelbe Handschuhe trug. So kalt war es nun auch wieder nicht. John sah, wie seine Mutter mit ihrer Handtasche hantierte, ein paar Papiere herauszog und dann erneut in der Tasche wühlte. Diese Gesten versetzten ihn in seine Kindheit zurück. Seine Mutter tat ihm zwar leid, weil sie so früh schon zur Witwe geworden war, sie schüchterte ihn zugleich aber auch ein. Wozu bin ich gekommen, wenn sie nicht will, dass ich ihn noch einmal sehe? Sie selbst war natürlich durch ihre Arbeit fast täglich mit dem Tod konfrontiert. Dann bemerkte er, dass vier Männer, die einen Sarg über ihren Köpfen balancierten, versuchten, sich zwischen den zweireihig geparkten Autos hindurchzuzwängen. Ein Leichenwagen, schäbig, aber seltsam amerikanisch wirkend, war um die Ecke gebogenund in dritter Reihe stehen geblieben, wo er jetzt die Straße blockierte und Abgase verströmte. Ein Hupkonzert setzte ein. Eine Frau mit einem großen Korb auf dem Kopf schlängelte sich durch den Verkehr. Fahrer brüllten sich an, während die vier Männer sich abmühten, um mit dem Sarg an den parkenden Autos vorbeizukommen. Die sperrige, glänzende Kiste sah ausgesprochen unhandlich aus. Konnte er die Männer wirklich bitten, sie zu öffnen?
»Was kostet das alles?«, erkundigte sich John, als seine Mutter wieder einstieg und die Tür zuschlug. Der Leichenwagen fuhr weiter. »Wie bitte?«, fragte sie wieder. John konnte nicht sagen, ob sie litt oder nur abgelenkt war. »Ich frage mich nur, ob es sehr teuer ist«, wiederholte er. »Alles ist teuer, mein Schatz«, sagte sie.
Sie fuhren durch den chaotischen Verkehr hinter dem Leichenwagen her. »Wir fahren zu einem evangelischen Friedhof im Norden der Stadt«, erklärte Helen James jetzt. »Es ist ein alter Militärfriedhof, der vorwiegend von Exilanten und einheimischen Christen benutzt wird. Vor Kurzem haben sie ein modernes Krematorium gebaut, weil der Platz langsam knapp wird.« Sie runzelte die Stirn beim Anblick einer Reihe
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