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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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plötzlich Angst,der Sarg würde einfach auf die Schienen gestellt und direkt hinter den dunkelroten Vorhang befördert, wo sich zweifellos die Verbrennungsanlage befand. Dann würde Dad ausgelöscht, ohne dass irgendetwas gesagt wurde.
    Helen James setzte sich in die erste Reihe. John entdeckte jetzt den großen roten Knopf an der Wand neben dem Vorhang. Er hatte nicht mit solchen Gefühlen gerechnet. Er hatte seinem Vater nie besonders nah gestanden. In den letzten Jahren war er ihm wie ein Hindernis vorgekommen, eine Quelle der Peinlichkeit. Während er sich unbeholfen neben seine Mutter auf die Bank setzte, fragte er: »Kann ich hingehen und den Sarg küssen?« Er schwitzte, aber Helen James saß kerzengerade da und schaute durch den schwarzen Schleier hindurch die glänzende Kiste an, die jetzt auf die Schienen gesetzt wurde.
    Als er sie ansah, spürte John, dass seine Mutter im Stillen ein Ritual vollzog. Sie hatte gewusst, wie dieser Augenblick sein würde, sie war vorbereitet, konzentriert, während er sich völlig aufgelöst fühlte, dem Ansturm seiner Gefühle wehrlos ausgeliefert. Ich habe nichts, dachte er plötzlich. Er hat mir nichts hinterlassen.
    John hatte den Eindruck, seine Mutter bewege unter ihrem Schleier die Lippen. Sie sprach mit Vater. Sie hat ihr Gesicht verschleiert, dachte er, um die Hintergrundgeräusche auszublenden, um diese letzte Unterhaltung mit Dad ganz in Ruhe führen zu können. Und jetzt schien sie auf der Bank ganz leicht vor und zurück zu schaukeln. Sie erfüllt einen Schwur. Er war neidisch. Sie schaukelte vor und zurück, eine seltsame, tranceartige Bewegung. Sie redet mit ihm.
    Dann fiel John ein, dass er aufstehen, nach vorne laufen, sich hinknien und den Sarg küssen musste. Er wollte die Stirn auf das glänzende Holz legen. Er sah das Bild vor sich. Er schmeckte schon das lackierte Holz auf seinen Lippen. Er würde die Augen schließen. Sein ganzer Körper war jetzt angespannt, inVorbereitung auf diese dramatische Geste, den Sarg seines Vaters zu küssen, ehe er ins Feuer glitt.
    Aber nein, das durfte er nicht. Es würde seine Mutter stören. Dies war ihr Tag, nicht seiner. Er durfte ihre letzte Zwiesprache mit ihrem Mann nicht stören. John verspürte ein lähmendes Gefühl der Unzulänglichkeit, und auch Wut. Er fing an zu zittern und musste das Gesicht in seine Hände legen, um die Tränen zu verbergen. Er wollte zusehen, wie der Sarg durch den Vorhang glitt, und er wollte es auch wieder nicht. Wer würde auf den Knopf drücken? Tu es jetzt gleich, dachte er, tu es jetzt gleich!
    Dann sagte eine Stimme: »Mrs. James?«
    John hob abrupt den Kopf. Es war ein älterer Inder mit Pastorenkragen, der vom anderen Ende der Bank herüberkam. Der freundliche, grauhaarige Mann beugte sich vor und stellte mit leiser Stimme eine Frage. Wegen eines Geräuschs im hinteren Teil der Halle verstand John nicht, was gesagt wurde; er hörte Schritte und Stimmengewirr. Menschen strömten herein, und es gab seltsame, klimpernde Geräusche.
    John wandte sich um. Ein Dutzend Leute im mittleren Alter, drei, vier von ihnen Weiße, kamen mit einigen jüngeren Indern, darunter auch eine sehr attraktive Frau, den Mittelgang herauf. Zwei oder drei von ihnen kamen näher, als wollten sie seiner Mutter die Hand geben, aber die Konzentration, mit der sie auf den Sarg ihres Mannes starrte, hielt sie wohl davon ab. Sie nickten John zu, als wüssten sie, wer er war, und nahmen dann auf den Bänken hinter ihnen Platz. Das Geklimper wurde lauter, und als John sich erneut umschaute, sah er zu seiner Überraschung eine Schar junger Mädchen, die drängelnd durch die Tür kamen. Sie wurden von einer vollbusigen Nonne im Zaum gehalten, die sie stirnrunzelnd und zischelnd für ihre Keckheit tadelte.
    Die neugierigen, schubsenden Mädchen mussten etwa fünfzehn oder sechzehn sein. Sie waren alle Inderinnen, trugen aber die Art von Schuluniform, die in England schon längst eineSeltenheit geworden war: grüne, goldbesetzte Blazer, grüne Röcke, grüne Hüte mit goldenen Bändern, schicke schwarze Schuhe mit silbernen Schnallen, die auf dem harten Fußboden klackten und klimperten. Und durch dieses Gewusel von Grün und Gold änderte sich unvermittelt die Atmosphäre. Die Luft geriet in Bewegung und war plötzlich parfümiert. Das Haar der Mädchen quoll glänzend unter den Hüten hervor, als wäre es mit Öl getränkt. Ihre Augen blitzten, ihre Haut war lebendig. Die Nonne, ebenfalls Inderin, wies sie an, still

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