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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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sich erwartet. Aber seine Ideen standen ihm im Weg. Es waren Ideen, die ihm sagten, tu dies nicht, tu das nicht, du richtest damit nur Schaden an. Jedes Mal, wenn er etwas veröffentlicht hat, fühlte er sich schuldig. Hast du das gewusst? Er dachte, es würde missverstanden. Es würde die Menschen beeinflussen. Warum, glaubst du, hat er sich so kompliziert ausgedrückt und sein Studienfach so oft gewechselt? Er hatte eine großartige Idee, die Leute fingen an, ihr zu folgen, sich danach zu richten, und schon nahm er alles zurück und sagte, sie hätten ihn missverstanden, er hatte nie gewollt, dass jemand sein Verhalten danach richtet. Albert wollte keine Biografie. Er hat keine einzige Rezension über seine Arbeit gelesen. Er mochte es nicht, seinen Namen oder sein Foto gedruckt zu sehen, zu sehen, wie man über ihn sprach. Sobald du ihm Aufmerksamkeit schenkst, wird er verschwinden. Das war für ihn der Erfolg. Er wird sich in Luft auflösen. Du verschwendest nur deine Zeit.«
    Helen schwieg und schob ihren Stuhl vom Tisch zurück. Sie dachte flüchtig an den burmesischen Jungen. Er wollte ebenfalls verschwinden, das spürte sie. Than-Htay und Albert waren Seelenverwandte.
    »Genug jetzt«, sagte sie, »ich gehe ins Bett.« Sie stand auf. »Ich rufe dir ein Taxi.«
    Paul war sprachlos. Aber gerade diese abrupten Stimmungswechsel machten es ihm schwer zu gehen. Kühl sagte er: »Wenn du sowieso nicht schlafen kannst, warum schauen wir uns nicht eins von Alberts Videos an?«
    Sie war zu einem Tischchen am Fenster gegangen, um zu telefonieren. Jetzt hielt sie den Hörer in der Hand, und er hörte eine automatische Ansage. Dann legte sie auf. Sie schien zu überlegen, dann seufzte sie. »Na gut.«
    »Super.« Er griff nach der Flasche und schenkte sichdoch noch ein halbes Glas ein. In dem Moment ging das Licht aus.
    »Stromausfall!«, rief Helen. »Typisch Delhi. Warte. In der Küche müssen irgendwo Kerzen sein.« Sie wirkte erfreut.
    Paul saß im Dunkeln und hörte, wie sie sich um den Tisch herumbewegte. Ihr Kleid berührte ihn im Vorbeigehen, dann war sie in Richtung Küche verschwunden. Sie trägt kein Parfum, dachte er. Ohne die Klimaanlage war es still im Raum. Er hörte ein kleines Lachen. »Das ist bestimmt Albert«, rief sie. »Er will nicht, dass wir seine alten Videos anschauen!«
    Eine Flamme blitzte auf und flackerte, als sie damit zum Tisch kam. Als die Kerze anfing zu tropfen, legte Helen schützend ihre Hand vor die Flamme, sodass der Lichtschein auf ihr Gesicht fiel. Sie sah jung und lebendig aus.
    Nachdem sie die Kerze abgestellt und sich ihm gegenübergesetzt hatte, beugte sie sich über den Tisch und legte ihre Hand auf seine. Es war eine ganz natürliche Geste, wie zwischen alten Freunden, oder zwischen Schwester und jüngerem Bruder. Ihre Hand lag auf seiner. »Es tut mir leid, Paul«, sagte sie. »Ich benehme mich komisch. Dabei waren Albert und ich so wissenschaftliche Menschen.«
    Unwillkürlich drehte Paul sein Handgelenk, sodass seine Handfläche nach oben zeigte und die beiden Hände einander umfassten. Sofort war er verblüfft über die Intimität dieser Berührung; eine starke Energie wurde direkt in seinen Körper übertragen. Er schaute hoch zu ihren Augen, aber Helen betrachtete ihre Hände, ihre eigene, sehnige und kühle obenauf, seine schwere, fleischige darunter. »Also kein Video, wie es scheint«, sagte sie seufzend und zog ihre Hand zurück.
    Sie saßen schweigend da. Dann, vielleicht weil die Flamme direkt zwischen ihnen sie störte, schob Helen die Untertasse mit der Kerze ein Stückchen zur Seite. Dabei geriet die Kerze ins Schwanken und wäre beinahe umgefallen. Paul griff danach.
    »Au!«
    Ein Tropfen heißes Wachs war auf seine Hand gefallen. Er drückte die Stelle gegen die Lippen.
    »Verdammt, ist das heiß. Scheiße!«
    »Es tut mir so leid! Geht’s?«
    »Ist schon gut. Nur eine kleine Verbrennung.«
    »Bloß wegen dieser blöden Delle«, sagte sie. »Komm mit in die Küche, wir lassen Wasser darüberlaufen.«
    »Nein, schon gut.« Er pustete auf seinen Handrücken.
    »Sicher?« Sie schaute zu, wie sich seine Brust hob, als er pustete. Dann sagte sie: »Stell dir vor, das war John, mein Sohn. Die Delle hier.«
    Sie erzählte ihm, was passiert war, nachdem sie und ihr Sohn an seinem letzten Abend in Delhi zu Bett gegangen waren. Er sei ziemlich feindselig gewesen. »Dann bin ich aufgewacht, und jemand stand in meinem Schlafzimmer! Er hatte seinen Arm über mir erhoben.

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