Traeume von Fluessen und Meeren
Reichtum, Lust, Sex, er …«
»Opfern trifft es nicht ganz, und auch nicht der Unabhängigkeit«, wandte Mrs. Verma ein. »Gandhi ging es um …«
»Bitte!«, sagte Helen scharf.
»Lass den Mann mal ausreden«, schaltete sich die ältere Dame ein. »Albert war so ein charmanter Mann, nicht?«, sagte sie herzlich.
»Ich sprach von Gandhi«, sagte Paul. »Aber Albert hielt sich aus allen Geschichten raus oder mischte sich nur ganz kurz ein, um sie aufzulösen oder zu komplizieren. Seine Texte hinterlassen bei einem immer ein Gefühl von …«
»Ja?« Alle schauten ihn gebannt an.
»Nun ja, ich glaube, der zugrunde liegende Gedanke, so peinlich es auch klingen mag …« Aber er hielt erneut inne. Grinsend lehnte er sich zurück: »Warum wartet ihr nicht, bis mein Buch fertig ist, Leute? Der Einfluss eines Mannes endet nicht an dem Tag, an dem wir ihn zu Grabe tragen. Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Vorsitzenden der James Society von Delhi beim Abendessen sitzen.«
Der Filmregisseur lachte. »Gut gesagt«, erklärte er. »Wir warten alle mit angehaltenem Atem auf den Tag, an dem Ihr Buch herauskommt.«
In die allgemeine Erleichterung hinein, weil der schwierige Moment überstanden war, sagte Helen: »Das hätte Albert aber nicht gewollt.«
»Was?«
»Eine James Society. Nicht mal eine Biografie.« Sie runzelte die Stirn. »Wisst ihr«, sagte sie zögernd. Sie schien sich unsicher zu sein, ob sie weiterreden sollte oder nicht. »Also …«, aber erneut schwankte sie. Dann holte sie tief Luft: »Alberts größter Wunsch war es, ein Geist zu sein.«
»Ein Geist?« Kulwant zog eine Augenbraue hoch.
»Wie meinst du das?«
Helen gab sich jetzt eindeutig Mühe zu lächeln. »Albert wollte gleichzeitig anwesend und abwesend sein. Wie ein Geist. Oder wie der Typ, der beim Filmen die Kamera hält.«
»Interessant«, sagte Hakim. »Es wäre mit Sicherheit leichter, Tiger zu filmen, wenn ich ein Geist wäre.«
»Dann ist er vielleicht jetzt hier«, sagte das chinesische Mädchen. »Ich bin überzeugt, dass wir alle manchmal die Toten sehen können. Meine Mutter hat den Geist meines Vaters oft gesehen.« Sie hielt inne. »Woher will man zum Beispiel wissen, dass in einer großen Menschenmenge nicht einige der Leute tot sind?«
Das Dienstmädchen drehte sich abrupt um, ging eilig davon und stieß mit dem Tablett gegen den Türrahmen.
Als Paul ein paar Minuten später auf die Toilette ging, hörte er von irgendwoher ein Weinen. Beim Händeabtrocknen sah er im Spiegel hinter sich ein Regal, drehte sich um und zog einen Jahresbericht des Anthropologischen Instituts heraus. Die Ränder auf jeder Seite waren dicht beschrieben, in einer kleinen, geneigten, spinnenartigen Handschrift. Paul musste das Buch umdrehen und unter die Lampe halten: »Es könnte sich herausstellen« , las er, »dass das, was ich mein Leben lang versucht habe aufzuzeigen, nichts weiter als eine einzige große Tautologie ist: Wenn P, dann P.«
Sie aßen Nachtisch und tranken Lassi. Die Gandhi-Frau hatte die Unterhaltung wieder an sich gerissen. Trotz Helens offensichtlicher Billigung seiner Rolle als Biograf fühlte Paul sich verunsichert. Er musste allein und offen mit ihr sprechen, und morgen wollte er dann ein Ticket für den Heimflug kaufen. Sonst würde er den Kontakt verlieren. Er würde Amy verlieren, falls er sie nicht schon verloren hatte.
»Vor zwanzig Jahren«, sagte Mrs. Verma, »haben die Leute viel von Sozialismus und Chancengleichheit gesprochen, aber heute nicht mehr. Heute haben wir uns mit den Slums und den bettelnden Kindern und dem Organhandel abgefunden. Wir reden nur noch von Bollywood und von Ganesh-Statuen, die Milch von Gläubigen annehmen.«
»Ach ja, davon habe ich auch gelesen«, bemerkte der Mann vom British Council.
An der Stelle erinnerte die ältere Dame daran, dass am Ende der letzten Monsunzeit die Menschen im Norden von Bombay angefangen hatten, das Wasser aus dem Meer zu trinken, weil Ganesh es angeblich durch ein Wunder in Süßwasser verwandelt hatte, »obwohl es natürlich nur der Monsunregen war, der große Mengen Frischwasser ins Meer gespült hatte«!
»Da seht ihr’s«, beschwerte sich die Gandhi-Frau, »auch wir schweifen ab.«
»Die Armen hat man immer auf seiner Seite«, warf Paul provozierend ein. Er beschloss, als Letzter zu gehen. Er wollte die Sache mit Helen klären.
Aber der Amerikaner hatte die Rechnung ohne Kulwant Singh gemacht. Kaum war sie mit dem Essen fertig, fiel der
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