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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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gewechselt, aber die Ergebnisse habe ich nie zu Gesicht bekommen.«
    Auf dem nächsten Band wurde getanzt. Aber dieses Video war anders. Kein Bild oder Thema war länger als ein paar Sekunden zu sehen, jede Geste wurde vielmehr aufgegriffen und durch eine andere Bewegung in einem anderen Kontext fortgeführt: Der ausgestreckte Arm einer Tänzerin wurde zu dem eines Mannes, der gerade die Hand zum Händeschütteln ausstreckt, dann zum Arm einer Frau, die im Begriff ist, einen Wasserhahn aufzudrehen, dann zur Bewegung eines Friseurs, der auf dem Bahnhofsvorplatz Haare schneidet. Wenn die Tänzerin ihren Armherumschwenkte, machte das anschließend auch ein Fremdenführer vor dem Roten Fort, eine Frau, die im Wasser der Yamuna ihre Puja sprach, ein Koch, der ein Blech mit kleinen Kuchen aus dem Ofen holte und schwungvoll auf den Tisch stellte. Zwischendurch blitzten Bilder von hinduistischen Gottheiten auf, die von Statuen oder Gemälden abgefilmt worden waren, und zwar so, dass sie immer an derselben Stelle des Videobildes auftauchten und die Geste des jeweils vorangegangenen Motivs aufgriffen. Es wirkte so, als würde ein und dieselbe Person ständig transformiert, während sie wohlbekannte, zwanghafte Bewegungen ausführte: hocken, Arme schwenken, winken.
    »Faszinierend«, sagte Paul. Helen berührte seinen Ärmel. »Das ist Jasmeet, Kulwants Tochter.«
    »Die Tänzerin?« Das Bild hatte bereits wieder gewechselt.
    »Ja.«
    »Hübsches Mädchen.«
    »Nicht wahr?«
    Die Tänzerin erschien regelmäßig, immer nach etwa zehn Bildern; ihre hellgelbe Tunika und die lila Bluse schufen einen rhythmischen Kontrapunkt zu den anderen Bildern. Sie tanzte auf einer niedrigen Bühne, bei irgendeiner Feier; ihr Haar glänzte von Öl, die Hände waren hennagefärbt, das Gesicht sanft und ausdruckslos. Dann wurde aus ihrer Pirouette ein Soldat, der sich vor dem Roten Fort mit seinem Gewehr in der Hand umdrehte, und dann ein Fischer, der mit einer Drehung seine Angel auswarf.
    »Wirklich schade, dass sie sich am Bein verletzt hat«, sagte Paul.
    Ganz kurz erkannte Helen den burmesischen Jungen. Er warf einen Stein über einen Fluss, dann war er wieder verschwunden. Sein Handgelenk zuckte, der Junge drehte sich um, das Gesicht erschien im Bild. Helen hielt das Band an. Sie war überrascht, verdutzt. Albert hatte Than-Htay offenbar noch getroffen, nachdem er die Klinik verlassen hatte. Als er keine Medikamente mehr genommen hatte. Davon hatte er ihr nicht erzählt.
    »Was ist denn?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ach, es ist irgendwie alles zu viel, wenn man einmal begriffen hat, worauf er aus ist, findest du nicht? Noch eins?«
    »Ich kann nicht fassen, wie viele er gemacht hat«, sagte Paul. »Warum hat er nicht welche davon ans Fernsehen verkauft?«
    »Er hat sie katalogisiert und mit Querverweisen versehen. Es steckt eine gewisse Logik dahinter. Er hat immer eine endgültige Version geplant. Ein Kompendium aller Gesten und gestischen Muster.«
    Paul holte ein weiteres Band. Auf der Kassette klebte ein Sticker mit der gekritzelten Aufschrift Webwork . Paul schob sie ins Gerät und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Eine Spinne spann ihr Netz.
    »Das ist auf dem Unigelände«, sagte Helen. »Oben auf dem Hügel. Wo die Studentenmensa ist.«
    Paul sah zu, wie eine riesige gelbe Spinne sich rasch zwischen zwei Ästen hin und her bewegte, von denen der eine etwa eineinhalb bis zwei Meter über dem anderen hing, aber nicht direkt darüber, sondern etwas versetzt, sodass das Netz schräg war, symmetrisch zwar, was die konzentrischen Kreise seiner Fäden betraf, aber komplex in der Anpassung an die Zweige und Blätter, an denen es befestigt war. Das Video hatte keinen Ton. Jedes Spinnenbein zitterte, während es sich den Weg an den Fäden entlang ertastete. Alles wirkte angestrengt und zerbrechlich. Dann prallte eine Motte gegen das Gewebe.
    »Mir gefällt das nicht«, sagte Helen.
    »Ich schätze, wenn mein Buch aussagekräftig werden soll, dann muss ich mich mit dem zoologischen Aspekt in Alberts Arbeit auseinandersetzen.«
    Sie sahen zu, wie die Motte mit Seidenfäden umwickelt und dann in den oberen Teil des Netzes gezogen wurde.
    »Schreib lieber nichts, Paul.«
    Plötzlich lehnte Helen sich absichtlich an ihn. Kurz darauf murmelte sie: »Niemand hat Alberts Arbeit mehr bewundert als ich, aber am Ende war er krank. Er wusste, dass er versagt hatte. Er beschäftigte sich nur deshalb mit Spinnen, weil ihm niemand unterstellen konnte, er

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