Traeume von Fluessen und Meeren
hatte er seiner Arbeit eine neue Richtung geben wollen, hatte sich aus den Zwängen und Mechanismen des Buchgeschäftes lösen und sich schriftstellerisch weiterentwickeln wollen. Allerdings hatte er nicht vorgehabt, selbst Teil der Geschichte der James’ zu werden.
»Das tut mir leid«, sagte er leise.
»Ich fürchte, Alkohol macht mich wach. An dem Abend, als wir zusammen gegessen haben, war es auch so.«
»Das kann schon sein«, sagte Paul.
»Dann verfalle ich in einen endlosen Monolog. Ich rede mit Albert. Oder vielmehr Dialog. Wenn man so lange verheiratet war wie wir, dann kann man die Antworten des anderen mitdenken.«
»Vermutlich.« Paul empfand Mitgefühl, war aber auf der Hut. Die Mischung aus Strenge und einem Hauch von Wildheit bei ihr machte ihn unsicher; und Helen war eine gut aussehendeFrau. Sie musste bildschön gewesen sein, als Albert sie nach Kenia entführt hatte. Oder sie ihn.
»Sobald ich die Augen schließe, ist er da.«
Die Klimaanlage schien lauter geworden zu sein; es war ganz still im Raum.
»Was sagst du denn zu ihm?«, fragte Paul. Es schien gänzlich unmöglich zu sein, einfach von dem Buch anzufangen.
»Ich frage ihn, ob er Ruhe gefunden hat, ob er das Gefühl hat, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben … oder vielmehr, die richtigen Entscheidung en . Ich weiß, das ist albern. Ich weiß, er ist tot. Oder ich erzähle ihm von meinen Patienten. Zurzeit ist zum Beispiel ein Junge mit TB da, ein Teenager, den Albert kannte und mochte. Er ist schwer krank.« Sie schüttelte den Kopf. »Albert hatte eine Theorie, die besagte, wenn jemand dem Tod nahe ist, wenn er für diese Welt schon nicht mehr erreichbar ist, dann gerät sein Geist in einen besonderen Zustand überlegener Weisheit. Die Kelten nannten solche Wesen Elben. Ich glaube, auf Hindi gibt es dafür auch ein Wort. Er hat gehofft, selber auch in diesen Zustand zu geraten und ein bisschen darin zu verweilen, vielleicht sogar vermitteln zu können, was er dort entdeckt hat.« Sie zuckte die Achseln. »Letztendlich waren sein Ideen alle irgendwie widersprüchlich.«
»Hat er darüber nicht etwas im Nachwort zu Gesten geschrieben?«
»›Ein Gedanke ist es nicht wert, verfolgt zu werden, wenn er keinen Widerspruch in sich trägt‹«, zitierte sie. »Möchtest du noch etwas trinken?«
»Danke, ich habe genug«, sagte Paul.
Sie schenkte sich selber ein. »Es ist seltsam, aber ich habe mehr mit ihm gesprochen, seit er tot ist, als in den fünf, sechs Jahren davor.«
Paul betrachtete sie; sie wich seinem Blick aus. Etwas lahm sagte er: »Das wird sicher eines Tages aufhören.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, je weniger Albert getan hat, desto größer war seine Wirkung auf die Menschen und desto mehr fühlten sie sich zu ihm hingezogen.«
Dann änderte Helen abrupt den Tonfall und sagte: »Aber was du eigentlich wissen willst ist, ob ich dir erlauben werde, seine Papiere einzusehen, stimmt’s, und diese ganzen Videos?« Sie zeigte auf die Regale.
»Deshalb bin ich nach Indien gekommen.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich möchte immer noch nicht, dass du dieses Buch schreibst. Nicht, weil ich ein Geheimnis wahren will. Ich möchte nur nicht, dass das Ausmaß … na ja«, sie holte Luft, »das Ausmaß von Alberts Versagen deutlich wird, sein Gefühl der Niederlage.«
»Meine ersten Seiten haben dir nicht gefallen?«
»Ich habe sie gar nicht gelesen.«
Enttäuscht schaute Paul sie an und schwieg. »Wieso hast du mich dann heute Abend eingeladen und allen erzählt, dass ich dieses Buch schreibe?«
»Zu viel Alkohol«, sagte sie geradeheraus.
Er verstand sie nicht. »Aber wenn ich nun nicht glaube, dass Albert versagt hat? Allein seine Bücher sind eine große Leistung. Wie gesagt, ich würde mich sehr freuen, wenn du dir –«
»Du lässt einfach nicht locker, oder?«, unterbrach sie ihn. In ihrer Stimme schwang Ärger mit. »Du bist wirklich wie mein Bruder. Du kannst dir nicht vorstellen, etwas, das du, Paul Roberts, beschlossen hast, nicht zu tun. Nicht zu bekommen, was du willst. Du bist total gefangen in deiner Entschlossenheit.«
Paul wollte widersprechen, sah aber, dass Helen ihm direkt in die Augen schaute. »Hör zu, Albert war in gewissem Sinne besessen vom Erfolg, oder sagen wir vom Thema Erfolg. Er stammte aus einer erfolgreichen Familie. Man erwartete von ihm, dass er erfolgreich war. Sein Vater hat es erwartet. SeineMutter hat es erwartet. Sogar ich habe es erwartet. Er selber hat es von
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