Traeume von Fluessen und Meeren
Ganz kurz war ich überzeugt, dass es Albert war. Total irrational, ich weiß. Wie auch immer, John rannte dann hier ins Zimmer und knallte dieses blöde Souvenir, das er in der Hand hatte, auf den Tisch, genau an der Stelle, wo ich immer arbeite. Es war ein ziemlich schweres Ding.«
»Sehr seltsam«, stimmte Paul zu.
Ganz sachlich fragte sie: »Glaubst du, er wollte mich umbringen?«
»Um Gottes willen! Warum denn?«
»Er scheint irgendeinen Groll zu hegen. Und immerhin hat er dieses schwere Steinding über meinen Kopf gehalten. Was sollte er denn sonst gewollt haben?«
Paul dachte nach. »Was für einen Groll?«
»Er kommt mir vor wie ein erwachsener Mann, der so reizbar ist wie ein kleiner Junge. Warum, weiß ich auch nicht. Albert war wohl nicht zum Vatersein geschaffen.«
»Wollte er keine Kinder?«
Mit einem Plopp und einem Summen ging der Strom wieder an. Helen sprang auf und ging zu den Regalen an der gegenüberliegenden Wand. »Also, welchen Film wollen Sie sehen, Herr Biograf?«
Paul zuckte die Achseln. »Was immer du für interessant hältst.«
»Ich habe irgendwann nicht mehr verfolgt, wie er die Sachen katalogisiert hat.« Helen zog drei von den weniger verstaubten Kassetten hervor und suchte nach der Fernbedienung, die auf dem Sofa lag. Als sie sich setzte, ging der Fernseher an. Es lief gerade eine Werbung für einen Nachtklub außerhalb der Stadt. »Schieb du sie rein«, sagte sie. »Ich habe beinahe Angst hinzuschauen.«
»Wenn es dich zu sehr mitnimmt, lassen wir es.«
»Nein, nicht richtig Angst«, sagte sie. Ihre Stimme wurde ein bisschen leiser. »Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Ich scheine ohne ihn überhaupt nicht funktionieren zu können.«
Paul stand vom Tisch auf, nahm ihr das Video aus der Hand, schob es in das Gerät und ging rückwärts bis zum Sofa.
»Mach das Licht aus«, sagte sie.
Er stand noch einmal auf und schaltete es aus.
Nach dreißig Sekunden Dunkelheit fing das Band abrupt mit dem Bild eines Mannes an, der auf der Straße kniete und mit der rechten Hand, in der er eine Bürste hielt, den Rindstein schrubbte. Das Pflaster bestand aus großen, ungleichmäßigen Steinen, am Straßenrand stand ein Telegrafenmast, neben dem eine zerschlissene Plastiktüte lag. Es musste Monsunzeit sein, denn alles war nass, und das Licht hatte den seltsamen Monsunglanz, der aus einer Mischung von Feuchtigkeit und verschleiertem Sonnenschein entsteht.
Der Unterarm des Mannes bewegte sich rhythmisch, während er mit einer kurzen harten Bürste den Schlamm durch denBordstein schob. Menschen gingen vorbei, zwei Männer, die eine lange Karre manövrierten, ein Esel. Die Geräuschkulisse bestand aus Straßengeräuschen, Motorrädern, den Schreien eines Straßenhändlers. Die Kamera musste auf einem Stativ gestanden haben, denn das Bild war ruhig. Dann kam ein Hund und schnüffelte im Bordstein, ein dünner, hungriger Hund, und der Mann blickte auf und grinste breit. Seine wenigen Zähne waren braun, die Augen blutunterlaufen, und er trug einen lose sitzenden orangefarbenen Turban, dessen eines Ende auf seine Schulter herabhing.
»Er macht den Gully sauber«, sagte Paul.
»Das glaube ich nicht.«
Sie saßen ungefähr dreißig Zentimeter voneinander entfernt. Es gab eine angenehme Spannung zwischen ihnen, dachte Helen. Alleine hätte sie sich nie eines von Alberts Videos angesehen.
Aus der Plastiktüte zog der Mann eine flache Schale und fing an, Schlamm hineinzuschaufeln. Jetzt sahen sie, dass ihm die Spitze eines Zeigefingers fehlte. Seine Handgelenke waren narbig. Der Hund bellte, und der Mann schaute angestrengt in seine Schale mit Schlamm. Er stocherte darin herum, rührte, hob ein bisschen Schlamm hoch und ließ ihn wieder zurücktropfen. Er muss sich der Kamera bewusst gewesen sein, denn jetzt schaute er direkt hinein, schüttelte den Kopf und sagte etwas, das fast von einem Motorengebrumm übertönt wurde.
»Was hat er gesagt?«
»Keine Ahnung«, sagte Helen.
Sie saßen auf dem Sofa und betrachteten das Video. Es musste inzwischen zwei Uhr morgens sein. Die Kamera blieb auf den Mann fixiert, der im Rinnstein kniete, jetzt wieder den Schlamm durchkämmte, kleine Häufchen hochhob, sie untersuchte, einen Schmollmund zog und den Kopf schüttelte, sodass die Quaste seines Turbans hin und her baumelte.
»Ach«, sagte Helen seufzend. »Jetzt weiß ich’s.« Sie berührte Pauls Ärmel. »Der Mann lebt in einer der Straßen am Chawri Bazar. Ich habe
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