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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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zu sein, als sie in Zweierreihen den Gang entlang nach vorne schritten. John sah, dass jede eine kleine Plastiktüte mit etwas Gelbem darin in der Hand hielt. Was sollte das werden?
    Helen James drehte sich nicht um, aber sie wirkte auch kein bisschen überrascht. Ernst und feierlich gingen die Mädchen nach vorne, machten einen Knicks vor dem Sarg, bekreuzigten sich und streuten ihre gelben Blütenblätter über das polierte Holz. Beim Zuschauen verspürte John eine große Erleichterung, aber auch eine starke Sehnsucht. Was für kleine, zierliche Füße die Mädchen hatten, dachte er, während sie an ihm vorbeigingen, um sich in die hinteren Reihen zu setzen. Ganz unvermittelt dachte er an den winzigen Schuh aus seinem Traum. Wieso habe ich keine Blumen mitgebracht? fragte er sich. Der Sarg war dick mit Blüten bedeckt.
    »Die Nonnen und die Mädchen aus der Klosterschule St. Annen«, verkündete die Nonne, die auf die Bühne getreten war, »möchten ihre tiefe Dankbarkeit für die Arbeit zum Ausdruck bringen, die Albert James in unserer kleinen, bescheidenen Gemeinde geleistet hat.« Sie lächelte. »Er war sehr beliebt. Möge er im Frieden Gottes ruhen und uns allen in ewiger, guter Erinnerung bleiben.«
    Während sie sprach, betrachtete John das letzte Paar Knöchel, das an ihm vorbeiging. Das junge Mädchen hielt den Blick gesenkt und presste die Hände zusammen, während sie ihrenFreundinnen folgte. Dad hatte wohl als Lehrer arbeiten müssen, dachte er.
    Jetzt ging einer der älteren Inder nach vorne und nahm den Platz der Nonne ein. Er trug eine lange weiße Kurta und hielt sich leicht gebeugt. »Die Theosophische Gesellschaft von Neu-Delhi«, sagte er und klimperte dabei hinter seiner rahmenlosen Brille mit den Augenlidern, »wünscht Albert James eine leichte, friedvolle Rückkehr in den Großen Kreis des Lebens, der immer Gegenstand seiner wichtigsten Arbeiten war.«
    »Wie wahr«, murmelte jemand.
    Es folgten noch drei weitere Redner. Ernst und bleich sagte ein Engländer mit Doppelkinn, als Leiter des British Council habe er sich stets auf Albert verlassen, wenn es darum ging, Dinge zu erklären, die ihm in Indien ein Rätsel waren, und das waren selbstredend ein ganze Menge. Das Zoologische Institut der Universität von Neu-Delhi, verkündete eine nüchtern wirkende Inderin mittleren Alters, dankte Professor James aufrichtig für seinen Beitrag zu verschiedenen Forschungsprojekten. »Professor James«, sagte sie feierlich, »hat jedem Projekt eine unerwartete Dimension hinzugefügt.«
    »Ich bin von der Schauspielschule in Neu-Delhi«, erklärte ein junger Mann in Jeans. Selbstbewusst und mit leuchtenden Augen vereinnahmte er die Bühne auf eine Art, die den anderen gefehlt hatte. »Vom Jugendtheater, genau genommen.« Er lächelte. »Ja, also, wir möchten die Gelegenheit nutzen, um Albi zu danken, ihm von Herzen für die faszinierende Perspektive zu danken, aus der er das Theater betrachtet hat. Wissen Sie, er hat versucht, einigen von uns eine ganz neue Art des Zusammenspiels beizubringen. Er wurde nicht dafür bezahlt, und wir bewunderten ihn. Wir haben viel von ihm gelernt und hatten eine sehr schöne gemeinsame Zeit. Eines Tages bringen wir das, was er uns gelehrt hat, vielleicht auf die Bühne. Ich hoffe es jedenfalls.«
    Fast zu selbstzufrieden drehte sich der junge Schauspieler umund tätschelte den Sarg. »Danke, Albi.« Dann stolperte er beim Verlassen der Bühne. Seine Freunde kicherten.
    »Mrs. James?«, fragte der Geistliche. Er hatte hinter den anderen gestanden und gab Johns Mutter jetzt ein Zeichen. Das war also alles geplant, dachte John: die Blumen, das halbe Dutzend Würdigungen im Telegrammstil. Er war sehr erleichtert. Dennoch schlich sich ein Schuldgefühl ein, als er daran dachte, dass er selbst keinen Beitrag geleistet hatte. Er war nicht gebeten worden, etwas zu sagen, so als wäre er ein Fremder.
    Helen James ging nach vorne, bestieg die kleine Ziegelsteinbühne, stellte sich neben den Sarg. Zögernd drehte sie sich um und stand streng und aufrecht in ihrem schwarzen Kleid und dem Schleier da. »Was soll ich sagen?«, fragte sie. Ihre Stimme war leise, aber gefasst. »Albert war mein Leben, mein Schicksal« – sie hielt inne – »und ich seins. Ich seins«, wiederholte sie. »Das ist die Wahrheit.«
    Helen James holte tief Luft, als wolle sie zu einer längeren Rede anheben, dann drehte sie sich mit einer schnellen Bewegung um und drückte auf den roten Knopf an der

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