Traeume wie Samt
reden, dachte Molly. Die Verantwortung für Kelsey, den Laden, die Klärung der verzwickten juristischen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Vaters und der Aufbau der Abberwick-Stiftung hatten nicht viel Raum für ein Privatleben gelassen. Gelegentlich traf sich Molly mit Männern. Vor einem Jahr hatte sie gedacht, sie könnte ein wenig Glück in einer Beziehung mit Gordon Brooke finden, dem Besitzer eines Kaffeegeschäftes in der Nähe von Abberwick Tea & Spice. Sie besaßen viele Gemeinsamkeiten, und Gordon war ein attraktiver Mann. Doch dann, vor einigen Monaten, hatte sich diese Aussicht in nichts aufgelöst.
Schon seit geraumer Zeit nahm das tägliche Arbeitspensum Molly mehr in Anspruch als die Sehnsucht. Sogar für die jedes Quartal anfallenden Steuererklärungen interessierte sie sich mehr als für die Männer, denen sie begegnete. Besorgt fragte sie sich, ob ihre weiblichen Hormone in einen anhaltenden Winterschlaf gefallen waren. Doch diese Angst war an dem Tag verschwunden, als sie zum erstenmal in Harry Stratton Trevelyans bernsteinfarbene Augen geblickt hatte. Alle Hormone waren augenblicklich wieder zum Leben erwacht und hatten ein jubelndes Hallelujah angestimmt, das ihr Blut in Wallung gebracht hatte. Ihr Verstand schloß sich diesem Chor nicht an, sondern äußerte ernsthafte Bedenken. Sie liefen auf die Warnung heraus, sich von Harry fernzuhalten. Molly hatte zwar nicht den Erfindergeist ihrer Vorfahren geerbt, aber das Unglück wollte es, daß sie mit einer anderen berüchtigten Eigenschaft der Abberwicks gesegnet war: der Neugier. Und noch nie war Molly so neugierig gewesen wie bei Harry.
Jetzt sah sie ihn tadelnd an. »Begrüßen sich alle Trevelyans auf diese herzerwärmende Weise?«
Harry zog ein betroffenes Gesicht.
Josh lachte, während er vortrat. »Das mit dem Messer ist eine alte Zirkusnummer, die Harry und ich immer wieder ausführen, um in Übung zu bleiben.«
»Eine Zirkusnummer?« Molly holte mehrmals tief Atem, um den Rest des Adrenalins in ihrem Kreislauf zu verbrennen. Sie blickte Harry an. »Was Sie da eben getan haben, war eigentlich unmöglich.«
»Nicht für Cousin Harry«, versicherte Josh ihr. »Er besitzt die schnellsten Hände in unserer Familie.«
»Was um alles in der Welt soll das heißen?« fragte Molly.
»Beachten Sie ihn nicht«, sagte Harry. »Ein Messer aus dem Nirgendwo zu greifen ist nichts weiter als eine Illusion. Mein Vater hat es mir beigebracht, und ich habe es Josh gezeigt. Was, wenn ich näher darüber nachdenke, wohl ein Fehler gewesen ist.«
»Mein Großvater behauptet, Harry sei einer der besten Messerwerfer der ganzen Zunft«, sagte Josh. »Harry kennt alle Geheimnisse.«
Molly wandte den Kopf zu Harry. »Es ist wirklich nur ein Trick?«
»Ja«, sagte Harry.
Josh sah ihn vorwurfsvoll an. »Es ist mehr als ein Trick.« Er richtete sich an Molly. »Hat Harry Ihnen nichts von seiner Gabe erzählt?«
»Um ehrlich zu sein, nein.« Molly hob eine Braue. »Ich gewinne langsam den Eindruck, daß Harry mir vieles verschwiegen hat.«
»Cousin Harry besitzt das Zweite Gesicht der Trevelyans«, vertraute Josh ihr an. Als er Harrys Gesichtsausdruck sah, leuchteten seine Augen belustigt.
»Das Zweite Gesicht?« Molly drehte sich wieder zu Harry.
»Josh besitzt einen merkwürdigen Sinn für Humor«, erklärte der. »Nehmen Sie mein Wort darauf. Der Trick mit dem Messer beruht schlicht und ergreifend auf Illusion.«
»Ha. Und genau da irrst du dich, Harry.« Josh lächelte hintergründig. »Es ist ganz und gar nicht einfach. Man muß schnell sein. Und du bist außerordentlich schnell.« Er zwinkerte Molly zu. »Er besitzt auch die Reflexe der Trevelyans, müssen Sie wissen.«
»Faszinierend«, murmelte Molly. Da sie aus einer Erfinderfamilie stammte, war sie an merkwürdige Begebenheiten und ungewöhnliche Scherze gewöhnt, aber das hier war wirklich einmalig.
Harry warf Josh einen angewiderten Blick zu. »Zeig Molly das Messer, das du angeblich geworfen hast.«
Josh war ehrlich entsetzt. »Das kann ich nicht! Es wäre gegen die Regeln.«
»Hier stelle ich die Regeln auf«, sagte Harry. »Zeig es ihr.«
»Nur wenn du versprichst, daß du Cousin Raleigh und Tante Evie nichts davon erzählst.«
»Du hast mein Wort darauf«, sagte Harry.
»Gut.« Mit theatralischer Geste zog Josh eine glänzende Klinge aus seinem Hemdärmel. Grinsend erklärte er Molly: »Jetzt sehen Sie es …« Die Schneide verschwand wieder unter der Manschette. »Jetzt nicht
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