Traeume wie Samt
ein, bevor Harry seinen Cousin weiter verhören konnte. »Ich wollte ohnehin gerade gehen.«
Harrys bernsteinfarbene Augen glänzten vor Ungeduld. »Es gibt keinen Grund, warum Sie gehen müßten. Wir haben unser Gespräch noch nicht beendet.«
Molly machte eine abwehrende Geste. »Kein Problem. Wir können morgen weiterreden.« Sie hoffte, Harry hätte in dem Tumult um Joshs Eintreffen vergessen, daß sie die Nerven verloren und ihn entlassen hatte. Was war nur in sie gefahren? Wenn sie Harry den Auftrag entziehen würde, besäße sie keine Ausrede mehr, ihn wiederzusehen. Dieser Gedanke ließ sie bis in die Knochen frösteln. Sie stand auf.
»Meinetwegen brauchen Sie nicht zu gehen.« Josh zog sich hastig zum Eingang zurück. »Ich fahre ins Foyer hinunter und lese etwas. Chris wird es nichts ausmachen. Er hat gern Gesellschaft.«
»Unsinn.« Molly rückte energisch ihre Jacke zurecht. »Es ist fast elf. Sie beide haben sicher persönliche Dinge zu besprechen und ich brauche meinen Schlaf. Harry, rufen Sie mir ein Taxi?«
Harrys Unterkiefer wurde starr. »Ich fahre Sie nach Hause.«
»Dafür gibt es keinen Grund. Ein Taxi genügt völlig.«
»Ich habe zugesagt, Sie nach Hause zu begleiten«, wiederholte Harry ruhig.
Molly begegnete seinem unbeirrten Blick. Sie dachte nicht daran, über dieses Thema mit ihm zu streiten. »Wenn Sie darauf bestehen.«
»Das tue ich.«
Ob er beschlossen hatte, ihre Kündigung zu akzeptieren? Molly zermarterte sich den Kopf, wie sie dem zuvorkommen könnte. Auch wenn Harry ein arroganter Starrkopf war und sie verunsicherte, wollte sie eines aus einem unerfindlichen Grund am allerwenigsten: ihn entlassen.
Mollys Haus befand sich auf dem Capitol Hill, nur ungefähr zwölf Blöcke von Harrys Innenstadtwohnung entfernt, aber die kurze Fahrt durch die Straßen Seattles kam ihr wie die längste Reise ihres Lebens vor. Sie hätte nicht sagen können, ob Harry schwieg, weil er verärgert war oder über etwas nachdachte.
Unabhängig von seiner Stimmung fuhr er den schnittigen jagdgrünen Sportwagen mit eleganter Präzision. Molly kannte weder das Fabrikat noch das Modell, aber sie war in einer Familie genialer Ingenieure aufgewachsen und hatte sofort gewußt, daß es sich um ein technisch ausgereiftes Produkt handelte. Sie nahm sich vor, Harry diesbezüglich zu fragen. Aber nicht heute abend. Im Augenblick faszinierte sie weniger das Auto als die Art, wie Harry Schalthebel und Kupplung bediente. Sie bemerkte, daß er ein erlesenes, sinnliches Vergnügen darin fand, den Wagen mit geschmeidig weichen, exakten Bewegungen zu lenken. Er fuhr ihn, als würde er ein Pferd reiten.
»Sind Sie tatsächlich von einem Jahrmarkt zum anderen gereist?« fragte Molly schließlich, als sich das Schweigen immer länger hinzog.
»Nein. Mein Vater arbeitete als Schausteller. Wie Josh Ihnen gesagt hat, besaß er eine Unterhaltungsshow. Aber er verkaufte sie, kurz nachdem er mit meiner Mutter fortging. Mit dem Geld eröffnete er ein Tauchgeschäft auf Hawaii. Dort bin ich aufgewachsen.«
»Ich bin davon ausgegangen, daß Sie aus einer Familie mit langer akademischer Tradition stammen.«
Im Licht der Straßenbeleuchtung konnte sie Harrys mattes Lächeln erkennen. »Seit unserem Urahnen Harry Trevelyan bin ich der erste aus dem Clan, der sein Geld mit etwas anderem verdient, als Menschen ihr Schicksal vorherzusagen, Rennen zu fahren oder Messer zu werfen.«
»Wann hat dieser erste Harry Trevelyan die Familientradition begründet?«
»Im frühen neunzehnten Jahrhundert.«
»Und Ihre Mutter?«
»Sie war eine Stratton.«
Jetzt begriff Molly die Bedeutung des mittleren Namens. »Die Strattons aus Seattle? Immobilien, Investment und Bauentwicklung?«
»Drei Generationen Geld, wirtschaftlicher Einfluß und politische Macht«, bestätigte Harry mit tonloser Stimme.
Molly dachte darüber nach. »Eine ungewöhnliche Kombination«, sagte sie vorsichtig. »Ich meine, Ihr Vater und Ihre Mutter.«
»Jahrmarkt und obere Zehntausend? Ungewöhnlich ist ein Wort dafür; die Trevelyans und die Strattons kennen andere, von denen die meisten in keinem Lexikon stehen.«
»Ich nehme an, daß keine der beiden Familien von der Wahl begeistert war?«
»Das ist noch milde ausgedrückt. Die Trevelyans kochten vor Wut, weil mein Vater die Show nach der Heirat verkaufte. Sie verstanden diesen Entschluß als Abkehr von der Familie, denn die meisten Verwandten arbeiteten damals für den Zirkus. Der neue Besitzer brachte
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