Traeume wie Samt
und legte das Messer daneben. »Du störst mich bei einer geschäftlichen Besprechung.«
Von der unerwarteten Entwicklung verblüfft, starrte Molly Harry an. »Was geht hier vor? Wer ist das?«
»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Cousin Josh Trevelyan vorzustellen.« Harry betrachtete seinen Verwandten mit resignierter Mißbilligung. »Er besitzt eine Vorliebe für dramatische Auftritte. Das liegt in der Familie. Josh, dies ist Molly Abberwick.«
»Hallo«, sagte Josh fröhlich.
Molly fand ihre Stimme wieder. »Hallo.« Josh, erkannte sie nun, war jung, vielleicht zwei Jahre älter als ihre Schwester Kelsey, folglich also höchstens zwanzig. Er besaß mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit Harry. Das gleiche mitternachtsschwarze Haar, obwohl sich bei Josh noch keine Silberfäden zeigten wie bei Harry, der gleiche elegante Körperbau, auch wenn Josh noch nicht über Harrys kontrollierte Geschmeidigkeit und konzentrierte Kraft verfügte. Doch das, vermutete Molly, war nur eine Frage der Zeit.
Außer im Alter unterschieden sich die beiden Männer trotz ihrer Ähnlichkeit vor allem in den Gesichtern. Josh Trevelyans gutes Aussehen entsprach zweifellos den traditionellen, von Hollywood geprägten Vorstellungen. Mit seinen langen schwarzen Wimpern, den dunklen, romantischen Augen und den feingezeichneten Konturen von Nase und Mund hätte er geradewegs von der Leinwand herabgestiegen sein können. Harrys Züge dagegen wirkten heldenhaft, furchtlos und unerschrocken. Sein Gesicht war das eines abgehärteten Asketen oder eines Mannes, der auf der Suche nach geheimen Wahrheiten jahrelang wie ein Alchimist in die brodelnden Tiefen eines Reagenzglases geblickt hatte. Man sah ihm an, daß er lange an seiner Selbstkontrolle und Selbstverleugnung gearbeitet hatte, bis ihm diese Eigenschaften in Fleisch und Blut übergegangen waren. In seinen bernsteinfarbenen Augen glaubte Molly die Glut eines uralten Feuers zu erkennen. Die kraftvollen, langfingrigen Hände sprachen von großer Begabung, doch auch von tiefer Verzweiflung.
»Das nächste Mal versuchen Sie es mit Anklopfen«, schlug Molly vor und ließ sich auf die Armlehne des Ledersofas sinken. Sie hätte keinen Augenblick länger stehen können. In ihren Adern pulste noch immer unangenehm das Adrenalin.
»Tut mir leid, Molly.« Harry sah seinen jüngeren Cousin an. »Miss Abberwick ist eine Mandantin, Josh. Und sie hat recht. Das nächste Mal klopfst du vorher an.«
Josh schmunzelte. Harrys Verärgerung schien ihn nicht zu berühren. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu Tode zu erschrecken.«
»Ich bin erfreut, das zu hören«, murmelte Molly, noch immer erschüttert wegen der Szene, deren Zeugin sie eben gewesen war. Sie sah Harry um Erklärung bittend an. Als seine kühnen, intelligenten Augen ihren begegneten, erkannte sie darin einen bedauernden Ausdruck und hatte den Eindruck, daß er nicht ganz sicher war, was er nun tun sollte. Für einen kurzen Augenblick wurde ihre Neugier geweckt. Zu keinem Zeitpunkt während des vergangenen Monats hatte Harry auch nur die Andeutung von Unsicherheit verraten. Bis heute abend war immer eine Ruhe und Kraft von ihm ausgegangen, die sie an einen buddhistischen Zen-Meister erinnert hatte. Dieser neue Aspekt in seinem Wesen verwirrte sie. Harrys unerschütterliche Beherrschtheit, seine scheinbar unendliche Geduld und die unbezweifelbare Intelligenz hatten Molly vorsichtig gemacht und gleichzeitig eine unerklärliche Neugier in ihr geweckt. Sie spürte, daß zwischen ihnen dieselbe Anziehungskraft bestand wie zwischen Motte und Licht. Sehr gefährlich. Vor allem, weil sie eine zu große Verantwortung trug, um sich ein Risiko erlauben zu können. Die Erkenntnis, daß sie sich zu Harry hingezogen fühlte – schon bei ihrer ersten Begegnung –, hatte Molly überrascht. Tapfer hatte sie versucht, diese Gefühle einzudämmen. Um zu entscheiden, wie sie mit diesem Problem umgehen sollte, brauchte sie Zeit. Noch immer arbeitete sie an einer Lösung.
Harry Stratton Trevelyan hätte ein Ritter sein können, ein Künstler, ein Mönch oder ein Vampir. Angesichts dieser Möglichkeiten fand Molly seine Entscheidung für die akademische Laufbahn interessant. Zunächst hatte sie seine Wirkung auf sie dem Umstand zugeschrieben, daß sie in letzter Zeit zu wenig ausgegangen war. Tante Venicia, ihre Schwester Kelsey und ihre Angestellte Tessa wurden nicht müde, Molly immer wieder zu drängen, sich mehr ins Leben zu stürzen. Sie haben leicht
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