Traeume, zart wie Seide
die vielen Nächte, die sie wach gelegen und sich vorgestellt hatte, auf welche Weise sie Gray näher kennenlernen würde. An Fantasie hatte es ihr nie gemangelt. Mal lief er ihr in der Stadt über den Weg und lud sie zu einem Kaffee ein. Mal sonnte sie sich auf dem Bootssteg des White Caps, und er fuhr mit dem Boot vorbei. Es gab romantische Versionen und dramatische, ganz unschuldige und von ihr geschickt eingefädelte. Sie konnte Stunden damit verbringen, alles genau auszuschmücken – welche Kleidung sie trugen, wie das Wetter war, ob jemand sie sah oder sie allein blieben. Aber immer endeten ihre Szenarios damit, dass sie und Gray sich küssten.
Tagträume eben, nichts weiter als kindische Fantasien. Als sie daran dachte, wie zärtlich und liebevoll Nate ihre Schwester anschaute, kamen ihr diese Gedankenspiele plötzlich unendlich albern vor.
„Tom, hättest du Lust, mal mit mir essen zu gehen?“, platzte sie heraus.
Der Jungkoch hätte sich beinah den Finger abgeschnitten, so überrascht war er. Mit offenem Mund schaute er sie an. „Äh, ja, klar“, stotterte er schließlich.
„Fein. Passt dir morgen Abend? Holst du mich um sieben ab?“
„Klar. Ich meine, wahnsinnig gern.“
Joy nickte und machte sich dann wieder an die Arbeit. „Sehr schön.“
Der Abend neigte sich seinem Ende entgegen, und Gray war mit dem Verlauf der Party äußerst zufrieden. Sein Vater strahlte, wie er es seit dem Schlaganfall nicht mehr getan hatte, das Essen war exquisit, und die Gäste hatten sich gut unterhalten.
Trotzdem war er froh, dass es vorbei war. Schon eine ganze Weile wartete er sehnsüchtig darauf, sich endlich zurückziehen zu können – dabei war eine Party mit fünfzig Gästen nicht sonderlich anstrengend. In Washington musste er ganz andere Feiern mit Hunderten von Teilnehmern durchstehen.
Nein, es lag an Joy. Den ganzen Abend hatte er so intensiv nach ihr Ausschau gehalten, dass er davon schon Nackenschmerzen bekam. Wann immer er irgendwo einen Blick auf eine schwarz-weiß gekleidete Frau erhaschte, hatte er sich den Hals verrenkt, um zu sehen, ob es sich um Joy handelte – doch meistens war sie es nicht.
Nur zweimal hatte er kurz einen Blick auf sie werfen können – einmal war sie mit einem Häppchenteller herumgegangen, und einmal hatte sie leere Gläser abgeräumt. Fast konnte man denken, dass sie ihm absichtlich aus dem Weg ging. Und wahrscheinlich sollte er ihr dafür dankbar sein, denn in dieser Kellnerinnentracht sah sie einfach umwerfend aus, sodass sie seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte.
Gray ging in sein Arbeitszimmer und zog die Anzugjacke aus, die er achtlos aufs Sofa warf. Dann nahm er sorgfältig die Manschettenknöpfe ab, steckte sie in die Tasche und krempelte die Hemdsärmel auf.
Als er sich gerade einen Whiskey eingoss, betrat der Fraktionssprecher des Senats den Raum. Gray nickte ihm zu: „Hallo, Beckin. Wollen Sie auch einen?“
„Ja, aber mit viel Eis bitte.“
Gray schenkte ihm ein und reichte ihm das Glas.
„Danke.“ John Beckin schloss die Tür. „Ich hatte gehofft, Sie allein anzutreffen. Wie geht es Walter wirklich?“
„Jeden Tag besser“, erwiderte Gray. Als erfolgreicher Politiker wusste Beckin genau, wie man Mitgefühl und Verständnis heuchelte. In diesem Fall waren die Gefühle ja vielleicht sogar echt – der grauhaarige Senator mit der Hornbrille und den distinguierten Gesichtszügen hatte früher mal für Walter Bennett gearbeitet, und zwischen den beiden Männern war eine Freundschaft entstanden.
„Bisher habe ich nur E-Mails von ihm bekommen“, sagte Beckin. „Ich war schon etwas erschrocken, mit eigenen Augen zu sehen, wie es um ihn steht. Aber er wirkte heute Abend sehr glücklich, und man konnte sehen, wie stolz er auf Sie ist.“
„Danke.“
„War Belinda heute auch hier?“
Gray leerte das Glas in einem Zug, doch der Alkohol hinterließ beim Gedanken an seine Mutter einen bitteren Nachgeschmack. „Nein.“
Sie würde es nicht wagen, seinem Vater in seinem Beisein unter die Augen zu treten, dafür hatte er gesorgt.
„Ich muss Ihnen etwas erzählen, was ich gehört habe“, fuhr Beckin unvermittelt fort. „Es sind aber keine guten Neuigkeiten.“
Gray hob eine Augenbraue. „Na, dann schießen Sie mal los.“
„Haben Sie diese Artikel über die internen Meinungsverschiedenheiten im Senat gelesen? Von dieser Klatschreporterin Anna Shaw?“
„Ja. Es standen so viele Details drin, dass sich mir der Verdacht
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