Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
Notizblock aus seiner Brusttasche, reicht mir beides über die Theke rüber, und dann, zum ersten Mal überhaupt, lächelt er mich an.
Siebenunddreißigstes Kapitel
Den ganzen restlichen Nachmittag laufe ich herum wie benommen angesichts der seltsamen Wendung, welche die Ereignisse plötzlich genommen haben. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: dass er mich angelächelt hat oder sein Anruf ein paar Stunden später, um mir zu sagen, ja, sein Onkel habe ein Zimmer für mich, und nein, es sei nicht teuer.
Grummel Griesgrams richtiger Name ist Vincent, und er ist eigentlich ein recht gesprächiger Mensch, wenn man erst mal hinter die grummelige Fassade geschaut hat. Ich bedanke mich überschwänglich, notiere mir Adresse und Telefonnummer in Italien und verspreche, im Diner vorbeizuschauen, wenn ich zurück bin, und zu berichten, wie es gelaufen ist. Das wäre schon mal erledigt, denke ich, als ich auflege. Ich habe einen Flug. Ich habe ein Hotelzimmer. Jetzt brauche ich nur noch Nate rumzukriegen, dass er mitkommt.
Was ungefähr so ist, als würde ich sagen: »Jetzt brauche ich bloß noch eine Milliarde Dollar«, denke ich niedergeschlagen.
Auf die Rückseite der Pressemeldung, die ich gerade über Artsy schreibe, kritzele ich verschiedene Möglichkeiten:
Entführen? Nein. Unmöglich, ihn ins Flugzeug zu schmuggeln. Außerdem bekomme ich dafür lebenslänglich, wenn sie mich erwischen.
Bedrohen? Womit? Mit meinem Stiletto-Absatz? Einer Brautzeitschrift? Massenvernichtungswaffen? Nein. Habe keine Massenvernichtungswaffen. Wobei das bei anderer Gelegenheit gewisse Leute auch nicht abgehalten hat.
Bestechen? Nein. Siehe oben. Womit? Wenn ich das Hotelzimmer in Venedig bezahlt habe, bin ich pleite.
Gerade suche ich verzweifelt nach weiteren Lösungsansätzen, als ich höre, wie die Tür aufgeht, und Daniel hereinkommt.
»Oh, hi, Daniel.« Ich winke ihm zu und lasse unauffällig meine Liste verschwinden. »Wie geht’s dir?«
Eine vollkommen überflüssige Frage. Er ist ein Bild des Jammers. Er trägt einen zerknitterten marineblauen Anzug, der aussieht, als hätte er darin geschlafen, ist unrasiert und hat dunkle Ringe unter den Augen. »Hi, Lucy.« Mühsam ringt er sich ein Lächeln ab. »Ist meine Mom da?«
»Ja, sie ist hinten.« Ich weise auf das Büro. »Habt ihr beiden was vor?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Ich wollte sie abholen und nach Hause bringen. Ich helfe ihr gerade beim Packen.«
»Sie zieht aus?« Bestürzt schaue ich ihn an. »Jetzt schon?«
»Ja, leider.«
»Hat sie mir gar nicht erzählt«, murmele ich.
Mir wird plötzlich ganz schwer ums Herz. Den ganzen Tag war Magda wie immer, unermüdlich und aufgedreht, hat mich mit ihren haarsträubenden Geschichten amüsiert und mir gestanden, wie aufgeregt sie wegen der Artsy-Ausstellung ist. Dabei hat sie die ganze Zeit gewusst, dass zu Hause die Umzugskartons stehen und sie an diesem Abend ihre Wohnung leerräumen muss. Dass sie auszieht aus der Wohnung, in der sie zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hat.
»Und wo will sie jetzt hin?«, frage ich besorgt.
»Erst mal zieht sie bei mir ein«, entgegnet Daniel mit einem schiefen Lächeln. »Wenigstens etwas. Weißt du, jede jüdische Mamme wünscht sich nichts sehnlicher, als bei ihrem Sohn zu wohnen.«
Trotz allem kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»Und, wie geht’s Robyn?«, fragt er nach kurzem Schweigen. Er versucht, ganz nonchalant zu klingen, scheitert aber kläglich damit.
»Ganz gut«, entgegne ich vage. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Dass ich der Meinung bin, sie macht einen großen Fehler, dass ich vergeblich versucht habe, sie zur Vernunft zu bringen? Oder soll ich mich einfach raushalten und mich nicht einmischen? Mir bei ihr eine Scheibe abschneiden und einfach hinnehmen, dass es kommt, wie es kommt?
»Bestimmt ist sie überglücklich, dass sie Harold endlich gefunden hat«, meint er und bohrt noch ein bisschen weiter.
Wir schauen einander an, doch keiner sagt, was er wirklich denkt. »Ja, wahrscheinlich.« Unverbindlich zucke ich mit den Schultern. Dann beiße ich mir auf die Lippen. Herrje, das macht mich echt fertig. »Hör zu, Daniel, ich glaube, ihr beide solltet dringend miteinander reden«, platze ich heraus. Ich kann einfach nicht anders.
Tja, tut mir leid. Zum Teufel mit »alles dem Schicksal überlassen«. Hätte ich mich an diese Regel gehalten, hätte ich Haare wie Schnittlauch und dichte,
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