Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
schaue ich es mir interessiert an.
»Sieht aus wie ein Clown«, meint Daniel, der es mit zusammengekniffenen Augen betrachtet.
»Clowns kann ich nicht ausstehen.« Es schaudert Magda ein wenig. »Die sind mir irgendwie unheimlich.«
»Vielleicht könnte man es reparieren«, meine ich, während ich Daniel über die Schulter schaue. »Bestimmt ließe sich ein Restaurator dafür finden.« Vorsichtig klappe ich das eingerissene Stückchen Leinwand nach hinten.
»Nein, ich mache mir ohnehin nichts draus. Wirf es einfach weg.« Magda rümpft die Nase. »Das Ding hat mir noch nie gefallen.«
»Aber es ist von Großtante Irena«, protestiert Daniel. »Sie hat gewollt, dass du es bekommst.«
»Moment mal, wartet mal kurz.«
Beide hören auf zu zanken und drehen sich erwartungsvoll zu mir um.
»Was?«, fragt Magda. »Was ist denn los?«
»Schaut mal, unten drunter«, sage ich und bin plötzlich wie elektrisiert. »Darunter ist noch eine Leinwand versteckt.«
»Oh, wow, ja, stimmt, du hast recht«, meint Daniel nickend. »Da ist noch ein anderes Gemälde drunter.«
»Na, ist denn das zu glauben?«, stammelt Magda fassungslos.
»Was hat Tante Irena immer noch gesagt? Dass der Schein trügen kann?«
»Was das wohl ist?«, überlegt Daniel.
»Tja, da gibt es nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Ich werfe Magda einen Blick zu. »Darf ich?«
Sie hebt die Hände, als wolle sie sagen: Natürlich, bitte sehr, nur zu , also atme ich tief durch und reiße dann mit einem energischen Ruck die zerfetzte Leinwand mit dem Clown herunter. Grelle Farben und dilettantische Pinselstriche verschwinden, und darunter kommt ein weiteres Gemälde zumVorschein. Das Aktporträt einer Frau, die auf Kissen gebettet daliegt, während pausbäckige kleine Engelchen sie umschwirren.
»Ganz hübsch«, murmelt Daniel anerkennend. Ich bringe keinen Ton mehr heraus. Mein Herz hämmert mir so laut in den Ohren, dass mir schwindelig wird.
Diese unverwechselbaren gedämpften Farben. Das bekannte religiöse Sujet. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht wahr sein … Mit zitternden Fingern drehe ich es ins Licht und schaue prüfend auf die Initialen in der Ecke. Es ist wahr.
»Ach du lieber Himmel«, keuche ich, und meine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern.
»Was ist denn?«, will Magda wissen.
»Ihre Tante hatte recht, der Schein kann wirklich trügen.« Ich drehe mich zu ihr um und bringe die Worte kaum heraus. »Das ist ein Tizian.«
Und dann verwandelt sich die Galerie mit einem Schlag in ein Tollhaus. Daniel ruft sofort einen bekannten Kunstexperten eines Auktionshauses an, Magda muss sich setzen, ehe sie umkippt, und ich bestaune einfach wie vor den Kopf gestoßen dieses unschätzbare Meisterwerk. Ich kann es nicht fassen, dass es die ganze Zeit da war, vollkommen unbeachtet in der Ecke stand und vermutlich jahrelang unentdeckt irgendwo verstaubt wäre, wäre Daniel nicht darübergestolpert.
Es ist wie ein Lottoschein mit sechs Richtigen.Wenn der Tizian echt ist,ist er Millionen wert. Ich meine, man stelle sich das doch bloß mal vor. Das wäre, als seien Magdas Gebete endlich erhört worden. Mit einem Schlag wären alle Probleme gelöst!
Bei dem Tumult in der Galerie vergeht die Zeit wie im Flug, und als ich schließlich merke, wie spät es geworden ist, fällt mir siedend heiß wieder das Theaterstück ein, für das Robyn mir die Karten geschenkt hat. Das hätte ich in der ganzen Aufregung beinahe vergessen. Schnell verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zum Theater.
Trotz allem, was heute passiert ist, freue ich mich auf die Vorstellung. Das zweite Ticket habe ich gestern für unglaubliche einhundertfünfzig Dollar bei eBay verkauft; es soll ein wirklich gutes Stück sein, und die Karten waren im Handumdrehen ausverkauft. Der Abend dürfte also eine nette Ablenkung sein. Ich kann es kaum erwarten, für ein, zwei Stunden in eine ganz andere Welt einzutauchen.
Eine Welt ohne Nathaniel Kennedy, denke ich mit einem Blick auf mein Handy und überlege, ob ich noch ein letztes Mal versuchen soll, ihn umzustimmen. Schnell schaue ich auf die Uhr. Ich habe noch ein paar Minuten Zeit, bis dieVorstellung anfängt. Fragen kostet nichts. Also wähle ich seine Nummer und warte darauf, dass es klingelt. Wahrscheinlich geht er gar nicht ran, sage ich mir, während ich dem Rufton lausche. Bestimmt drückt er mich weg, wenn er sieht, dass ich es bin.
»Wenn du mich fragen willst, ob ich mit dir nach Venedig fahre, vergiss es. Die
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