Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
Hörer, und ihre Stimmen dröhnen so laut aus meinem kleinen Handy, dass ich es schnell ein Stückchen von meinem Ohr weghalten muss.
»Ach du lieber Himmel, das ist ja großartig!«, japse ich, während mir ein ganzer Gebirgszug vom Herzen fällt und ich ein Dutzend Dinge auf einmal spüre – Erleichterung, Freude, pures Entzücken … Am liebsten würde ich die Faust in die Luft recken, einen Fremden abklatschen, jemandem um den Hals fallen, aber es ist niemand da, nur ich, auf einer Bank, mitten auf einer winzigen Piazza in Venedig, und ich lausche gespannt, als meine Schwester und Jeff aufgeregt durcheinander ohne Punkt und Komma ins Telefon quasseln und mir beide gleichzeitig von den Untersuchungsergebnissen berichten.
Der Tumor war noch im Anfangsstadium, und Jeff braucht keine Chemo. »Nur Urlaub«, ruft Kate begeistert, »einen richtig verdammt langen Urlaub.«
Wie ich ihr so zuhöre, kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen, und das nicht nur, weil die Ärzte für Jeff so gute Nachrichten hatten. Sondern auch wegen derVeränderung bei meiner Schwester. Wie sie ganz aufgekratzt davon schwärmt, in Urlaub zu fahren, das ist eine ganz neue Kate. Fort ist die Schwester, die jede freie Minute im Büro oder im Fitnessstudio verbrachte; die so versessen darauf war, Partner in ihrer Kanzlei zu werden oder einen Marathon zu laufen, dass sie völlig aus den Augen verloren hat, wer oder was in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Diese alte Kate hat meine Schwester neulich im Krankenhaus zurückgelassen, und irgendwie bezweifele ich, dass ich sie jemals wiedersehe.
»Wir haben an eine Safari gedacht oder vielleicht an einen Tauchurlaub am Great Barrier Reef. Jeff meinte, wir könnten ja auch was ganz Irres tun und uns beide ein Sabbatjahr nehmen und gleich beides machen …«
Während sie so weiterplappert, werde ich von einem Pärchen abgelenkt, das auf die Piazza spaziert. Geistesabwesend schaue ich zu, wie sie sich gegenseitig vor dem Brunnen fotografieren, ehe der Mann mich bemerkt und zu mir kommt.
»Entschuldigung«, setzt er an und merkt dann, dass ich gerade telefoniere. »Oh … Verzeihung.«
»Schon okay.« Ich lächele. Die überschäumend gute Laune meiner Schwester ist ansteckend. Ich meine, bitte, da steht ein verliebtes Pärchen, in einer der romantischsten Städte der Welt, und will ein gemeinsames Erinnerungsfoto schießen. »Moment mal, Kate«, sage ich zu meiner Schwester, die gerade laut darüber nachdenkt, ob sie nicht einfach eine Weltreise machen und die Pyramiden auch gleich noch mitnehmen sollen. »Ich muss nur schnell ein Foto machen.«
»Kein Problem. Lass uns nachher noch mal telefonieren«, erwidert sie fröhlich, verabschiedet sich und legt auf.
Kein Problem? Verdattert starre ich mein Handy an. Irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, an meine neue Schwester muss ich mich erst noch gewöhnen.
»Das ist wirklich nett von Ihnen, vielen Dank.«
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie die junge Frau mich anlächelt und mir die Kamera hinhält. Es ist so eine richtig große Kamera, eine, die man manuell einstellen muss, nicht so ein kleines Digitaldings für Urlaubsschnappschüsse.
»Könnten Sie das Foto vielleicht hier drüben machen, vor dem Sonnenuntergang?«, fragt sie höflich.
»Aber gerne.« Ich lächele, nehme die Kamera und schaue auf das Objektiv.
Und dann auf einmal stocke ich. Noch mal zurück. Sagte sie gerade …?
»Sonnenuntergang?« , japse ich entsetzt.
»Ja, ist der nicht atemberaubend?« Sie strahlt über das ganze Gesicht und weist auf die untergehende Sonne. »Als stünde der ganze Himmel in Flammen.«
Doch ihre Stimme dringt nicht mehr durch das ohrenbetäubende Pochen in meinen Ohren. Mein Herz hämmert wie wild und schlägt mir bis zum Hals, als ich aufschaue. Und tatsächlich. Es sieht aus wie eine gigantische Filmkulisse. Der granatapfelrote Himmel ist mit rosa und scharlachroten und orangefarbenen Streifen durchzogen, und die Sonne wirkt wie eine feurige Scheibe, die langsam hinter den Gebäuden versinkt.
Ach du lieber Himmel.
Die Legende. Ich muss zu Nate.
Hektisch wirbele ich herum. Das Pärchen steht noch immer da und lächelt mich an. Sie posieren für das Foto und warten darauf, von mir geknipst zu werden, aber ich habe auf einmal zwei linke Hände. »Tut mir leid, ich muss weg«, stottere ich, tippe
einfach auf den Auslöser und drücke ihnen dann hastig die Kamera in die Hand. »Hoffentlich habe ich Ihnen nicht die Köpfe abgeschnitten.« Mit
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