Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
geglaubt, ich sehe nicht richtig.« Ein strahlendes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, das kleine Knitterfältchen um seine Augen entstehen lässt.
Die sind neu, geht es mir durch den Kopf. Fältchen hatte er damals noch nicht. Und die Haare – die sind viel kürzer als früher, und an den Schläfen breiten sich Geheimratsecken aus.
»Ich dachte so: Nee, nee, das ist doch nicht möglich!«
Ich höre ihn reden, sehe ihn gestikulieren, aber es ist, als sei zwischen uns eine unsichtbare Barriere, eine Art undurchdringlicher Schild, und so starre ich diese Figur im grauen Anzug mit einem ungläubigen Staunen bloß sprachlos an.
Er sieht anders aus. Älter. Die Secondhand-Wildlederjacke und die langen, wirren blonden Haare sindVergangenheit, und die weichen Teenie-Gesichtszüge sind verschwunden, dafür hat er jetzt messerscharfe Wangenknochen und ein wesentlich markanteres Kinn. Aber es ist immer noch Nathaniel. Immer noch Nate.
Als mir dieser Gedanke durchs Hirn schießt, macht mein Herz einen kleinen Satz. Schnell bekommt es eins drüber, damit es diesen Unsinn lässt. Nein, das machst du nicht, du dummes Ding, sage ich streng. Fang jetzt bloß nicht so an.
»Tut mir leid, ich lasse dich gar nicht zu Wort kommen, was?«, meint er lachend, legt die Post beiseite und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. »Also, sag mal, wie geht’s dir? Was machst du so? Was machst du hier?«
Auf einmal merke ich, dass er – teurer Anzug hin, erfolgreicher Geschäftsmann her – nervös ist. Na ja, muss für ihn ja auch ein ganz schöner Schreck gewesen sein, von der Arbeit nach Hause zu kommen und mich nach zehn Jahren unvermittelt in seinem Flur stehen zu sehen. Wie ein Geist aus längst vergangenen Zeiten.
»Ich habe deine Gemälde hergebracht«, bringe ich mühsam heraus.
»Meine was?« Verwirrt guckt er auf die ordentlich in einer Ecke aufgestapelten Kisten und scheint sie doch gar nicht zu sehen.
»Die Gustav-Sammlung«, erkläre ich, bemüht, meine Stimme am Kippen zu hindern. Himmel, das ist so was von abartig. Es ist, als hätte ein Roboter das Kommando über meinen Körper übernommen, und ich stehe stocksteif da und rede mit so einer komischen Automatenstimme über Kunst, während die echte Lucy die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und in einer Endlosschleife kreischt: Oh Gott, oh Gott, oh Gott …
Einen Augenblick starrt er vollkommen fassungslos auf die Bilder. Dann auf einmal glätten sich die Falten auf seiner Stirn, und er dreht sich zu mir um, als wolle er jeden Augenblick »Heureka!« rufen. »Du arbeitest in der Galerie«, sagt er leise, und ich sehe förmlich, wie er eins und eins zusammenzählt.
»Ja, ich bin gerade von London hierhergezogen.« Mit eifrigem Nicken feile ich weiter an meiner R2-D2-Imitation. »Ich bin die Chefkoordinatorin.«
»Ach, wirklich?« Nathaniel wirkt wie benommen.
»Ein richtig guter Job«, füge ich schnell hinzu, weil ich plötzlich das Gefühl habe, mich rechtfertigen zu müssen. »Ich organisiere Ausstellungen, arbeite eng mit unseren neuen Künstlern zusammen, kümmere mich um die Kunden …«
»Aber was ist denn aus deiner eigenen Malerei geworden? Ich dachte …«
»Ach, das ist lange her«, murmele ich abwehrend, womit ich ihm einfach das Wort abschneide und dann meine Füße betrachte, die mir auf einmal hochinteressant erscheinen. »Aber egal, was ist mit dir?«, frage ich geschickt das Thema wechselnd. »Was machst du denn so?«
Was machst du denn so? Ach du lieber Himmel, Lucy, was für eine trantütige Frage ist das denn? Du klingst ja, als unterhieltest du dich über den Gartenzaun mit deiner Nachbarin.
Und nicht, als würdest du zum ersten Mal wieder mit deiner ersten, deiner ganz großen Liebe reden, die du zehn Jahre lang nicht gesehen hast, die dir aber die ganze Zeit nicht aus dem Sinn gegangen ist.
Okay, das habe ich jetzt gerade nicht gedacht.
»Ach, weißt du, so dies und das«, entgegnet er, und seine Mundwinkel zucken. In seinen Augen sehe ich es amüsiert aufblitzen, als er mich anschaut, und tief in mir regt sich etwas. Wie Eiswürfel, die gerade anfangen zu schmelzen. Ein Knacken, Splittern, Tauen.
»Tja, dann musst du aber mit ›dies und das‹ ziemlich erfolgreich sein«, erwidere ich und weise mit ausladender Geste auf die Wohnung.
»Ach, das.« Er tut es mit einem bescheidenen Schulterzucken ab. »Ist bloß gemietet.«
»Ach, ehrlich?«, sage ich und versuche so nonchalant zu klingen, als würde ich auch
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