Transfer
unvollständig. Eine ekelähnliche Repulsion, höchste Aversionsstufe, die auf eine für einen Nichtbetrisierten unverständliche Art noch gesteigert wurde, am interessantesten waren die Aussagen der Untersuchten, die seinerzeit - vor achtzig Jahren - im Tri-maldi-Institut bei Rom die Aufgabe hatten, die unsichtbare, in ihren Gehirnen errichtete Schranke zu durchbrechen. Das war wohl das Eigenartigste, was ich je las. Keiner konnte sie durchbrechen, doch der Bericht über die Erlebnisse, die solche Versuche begleiteten, war bei jedem verschieden. Bei den einen überwogen psychische Erscheinungen: das Verlangen, aus der
Situation, in die man sie gestellt hatte, zu fliehen. Die Wiederholung der Versuche rief bei dieser Gruppe starke Kopfschmerzen hervor, und die hartnäckige Wiederkehr dieser Schmerzen führte endlich zu einer Neurose, die sich aber schnell heilen ließ. Bei anderen dominierten körperliche Erscheinungen: Atemnot,
Asthma; dieser Zustand erinnerte an Angst, jedoch klagten die Menschen nicht über Angst, sondern über körperliche Beschwerden.
Wie Pilgrin in seinen Untersuchungen feststellte, war die Durchführung eines Scheinmordes- zum Beispiel an einer Puppe -bei 18 Prozent der Betrisierten möglich, doch mußten sie dabei absolut sicher sein, daß sie es mit einem toten Gegenstand zu tun hatten.
Das Verbot umfaßte alle höher entwickelten Tiere, aber Reptilien und Amphibien wie auch Insekten nicht mehr. Selbstverständlich fehlte den Betrisierten ein wissenschaftliches Wissen über die zoologische Systematik. Das Verbot war ganz einfach mit dem Grad der Menschenähnlichkeit verbunden, den man allgemein annimmt. Da jeder Mensch den Hund für ein den Menschen näherstehendes Tier hält als eine Schlange, war die Sache dadurch erklärt.
Ich las noch eine Menge anderer Arbeiten und gab denen recht, die behaupteten, daß einen Betrisierten introspektiv nur ein anderer Betrisierter verstehen kann. Ich legte diese Arbeiten mit gemischten Gefühlen aus der Hand. Am meisten war ich durch das Fehlen kritischer Bearbeitungen beunruhigt, irgendeiner Analyse, die sämtliche negativen Folgen dieses Eingriffs zusammenfassen würde, da ich keinen Augenblick zweifelte, daß es solche auch geben mußte. Nicht aus Mangel an Erfahrung und Achtung den Forschern gegenüber, sondern einfach darum, weil das Wesen allen menschlichen Tuns so ist: nie gibt es etwas Gutes oder Böses.
Ein kleiner soziographischer Umriß von Murwick enthielt zahlreiche interessante Angaben über die Widerstandsbewegung gegen die Betrisierung, die ihren Anfang begleitete. Am stärksten war sie wohl in den Ländern mit einer langjährigen Tradition blutiger Kämpfe, wie Spanien und gewissen Staaten Lateinamerikas. Illegale Organisationen für den Kampf gegen die Betrisie-rung entstanden übrigens fast in der ganzen Welt, besonders in Südafrika, in Mexiko und auf gewissen Tropeninseln. Man be-diente sich dabei sämtlicher Mittel, von der Fälschung ärztlicher Atteste über vorgenommene Eingriffe bis zur Ermordung der Aerzte, die solche Eingriffe vornahmen.
Als die Zeit des massiven Widerstandes und der heftigen Zusammenstöße vorbei war, kam es zu einer illusorischen Ruhe. Illusorisch war sie deshalb, weil sich erst dann ein Konflikt der Generationen abzuzeichnen begann. Die junge, betrisierte, verwarf beim Heranwachsen den größten Teil der menschlichen Errungenschaften- Bräuche, Gewohnheiten, Kunst, das ganze Kulturerbe wurde in einer erschütternden Art und Weise umgewertet. Die Veränderung umfaßte zahlreiche Gebiete, von der Erotik über die gesellschaftlichen Gewohnheiten bis zur Einstellung zum Krieg.
Selbstverständlich erwartete man eine große Teilung der Völker. Das Gesetz wurde - seinem Buchstaben gemäß - erst fünf Jahre nach seiner Entstehung gültig. Diese ganze Zeit hindurch wurden Riesenkader von Erziehern, Psychologen und Spezialisten ausgebildet, die für die richtige Entwicklung der neuen Generation sorgen sollten. Vonnöten waren eine vollständige Schulreform, Repertoireänderungen bei Aufführungen, Lesethemen, Filmen. Die Betrisierung - um in kurzen Worten die Skala dieses Umschwungs zu zeigen - verschlang in den ersten zehn Jahren vierzig Prozent des Nationaleinkommens der gesamten Erde, infolge ihrer zahlreichen und verzweigten Konsequenzen und Notwendigkeiten.
Es war eine Zeit großer Tragödien. Die betrisierte Jugend wurde den eigenen Eltern fremd. Teilte ihre Interessen nicht mehr. Verabscheute ihren
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