Transit
mein Gefallen an dieser Patronin war ganz vergangen, so hübsch sie mir auch zuerst erschienen war. Ich sah auf einmal in ihrem schlauen langen Kopf nur den Schädel, auf den man schwarze Löckchen gesetzt hat.
IV
Am nächsten Morgen zog ich mit meinem Handkoffer in die Capoulade. Ich wartete umsonst auf Paulchen. War er plötzlich mit dem Seidenhändler abgereist? War er nicht in die Capoulade gekommen, weil an der Tür ein Schild hing: »Für Juden verboten!« Mir fiel aber ein, er hatte ja, als die Deutschen kamen, das Vaterunser gebetet. Das Schild, das ihn also nichts anging, war außerdem schon verschwunden, als ich die Capoulade verließ. Vielleicht war einem der Gäste oder dem Wirt selbst das Schild zu unsinnig vorgekommen, vielleicht war es nur schlecht angenagelt gewesen und heruntergefallen, und keinem Menschen war es wichtig genug erschienen, es wieder anzunageln.
Der Tag war schön, der Handkoffer war nicht schwer. Ich ging zu Fuß bis zum Concorde. Doch wie auch die Sonne schien, an diesem Morgen beschlich mich die Sorte von Elend, die der Franzose Cafard nennt. Sie lebten so gut in dem schönen Land, so glatt ging ihnen alles ein, alle Freuden des Daseins, doch manchmal verloren auch sie den Spaß, dann gab es nichts als Langeweile, eine gottlose Leere, den Cafard. Jetzt hatte ganz Paris den Cafard, warum sollte ich verschont bleiben? Mein Cafard hattesich schon gestern abend geregt, als ich die Wirtin nicht mehr hübsch fand. Jetzt verschlang mich der Cafard mit Leib und Seele. Zuweilen gluckst es in einer großen Pfütze, weil es inwendig noch ein Loch gibt, eine etwas tiefere Pfütze. So gluckste in mir der Cafard. Und als ich die riesige Hakenkreuzfahne sah auf dem Place de la Concorde, da kroch ich ins Dunkel der Metro.
Der Cafard herrschte auch in der Familie Binnet. Annette war wütend auf mich, weil ich gestern nicht auf sie gewartet hatte. Ihre Mutter fand, es sei Zeit, daß ich irgendein Legitimationspapier herbeischaffte, in der Zeitung stehe, es gebe bald Brotkarten. Ich aß nicht mit der Familie, weil ich beleidigt war. Ich kroch in das Loch unterm Dach, das mein Zimmer war. Ich hätte ein Mädchen heraufnehmen können, doch dazu hatte ich auch keine Lust. Man spricht von tödlichen Wunden, von tödlicher Krankheit, man spricht auch von tödlicher Langeweile. Ich versichere Ihnen, meine Langeweile war tödlich. Aus lauter Langeweile brach ich an diesem Abend den Handkoffer auf. Er enthielt fast nichts als Papier.
Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich war verzaubert. Nein, darin kann der Grund auch nicht gelegen haben. Das Paulchen hat wirklich recht gehabt. Ich versteh gar nichts davon. Meine Welt ist das nicht. Ich meine aber, der Mann, der das geschrieben hat, der hat seine Kunst verstanden. Ich vergaß meinen Cafard. Ich vergaß meine tödliche Langeweile. Und hätte ich tödliche Wunden gehabt, ich hätte auch sie im Lesen vergessen. Und wie ich Zeile um Zeile las, da spürte ich auch, daß das meine Sprache war, meine Muttersprache, und sie ging mir ein wie die Milch dem Säugling. Sie knarrte und knirschte nicht wie die Sprache, die aus den Kehlen der Nazis kam, in mörderischen Befehlen, in widerwärtigen Gehorsamsbeteuerungen, in ekligen Prahlereien, sie war ernst und still. Mir war es, als sei ich wieder allein mit den Meinen. Ich stieß auf Worte, diemeine arme Mutter gebraucht hatte, um mich zu besänftigen, wenn ich wütend und grausam geworden war, auf Worte, mit denen sie mich ermahnt hatte, wenn ich gelogen oder gerauft hatte. Ich stieß auch auf Worte, die ich schon selbst gebraucht hatte, aber wieder vergessen, weil ich nie mehr in meinem Leben dasselbe gefühlt hatte, wozu ich damals die Worte gebrauchte. Es gab auch neue Worte, die ich seitdem manchmal gebrauche. Das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen. Ich fand auch, daß einer darunter mir selbst glich. Es ging in dieser Geschichte darum – ach nein, ich werde Sie lieber nicht langweilen. Sie haben ja in Ihrem Leben Geschichten genug gelesen. Für mich war es sozusagen die erste. Ich hatte ja übergenug erlebt, aber nie gelesen. Das war nun wieder für mich etwas Neues. Und wie ich las! Es gab, wie gesagt, in dieser Geschichte einen Haufen verrückter Menschen, recht durchgedrehtes Volk, sie wurden fast alle in üble undurchsichtige Dinge verwickelt, selbst die, die sich
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