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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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einmal, daß es doch noch diesen Stoff in mir gab, der seine Augen heller machte. »Ich kenne dich ja genug, um zu wissen, was du auch sonst treibst, was du auch sonst für Unfug treibst, was du dir auch für einen Unsinn ausheckst, daß du mich trotzdem unter gar keinen Umständen je im Stich lassen wirst.« Warum hat er mir das nicht früher schon einmalgesagt, dachte ich, früher, bevor wir alle in dieser Mühle gemahlen wurden? Ich fragte ihn, ob er Papiere hätte. »Ich habe einen Entlassungsschein aus dem Lager.« – »Wie kommst du denn zu dem Entlassungsschein? Wir sind doch alle zusammen nachts über die Mauer.« – »Einer von uns war so klug, in der letzten Minute, als schon alles drunter und drüber ging, einen Packen blanker Entlassungsscheine einzustecken. Ich hab mir einen ausgefüllt. Auf den Schein bekam ich den Aufenthalt im Dorf, auf den Aufenthalt meinen Sauf-conduit.« Er hatte noch ein paar dieser Scheine in der Tasche. Er gab mir einen ab. Er erklärte mir, daß man vermeiden müsse, über den Stempel wegzuschreiben. Man müsse vielmehr den vorgestempelten Schein so ausfüllen, daß der Stempel auf der Schrift zu sitzen scheine.
    Ich bat Heinz um ein Wiedersehen. »Vielleicht brauchst du mich, ich kenne viele Quartiere im Alten Hafen, ich kenne manche Schliche. Ich möchte außerdem mit dir sprechen. Mir gehen die Dinge im Kopf herum, ich werde nicht mit ihnen fertig.« Heinz sah mich aufmerksam an. Plötzlich wurde mir klar, daß es ziemlich schlecht mit mir stand. Ich machte mir nicht viel draus, aber ich konnte vor mir selbst nicht länger ableugnen, daß es schlecht mit mir stand. Ich hatte nur diese eine Jugend, und sie ging daneben. Sie verflüchtigte sich in den Konzentrationslagern und auf den Landstraßen, in den öden Hotelzimmern bei den ungeliebtesten Mädchen und vielleicht noch auf Pfirsichfarmen, wo man mich höchstens duldete. Ich fügte laut hinzu: »Mein Leben geht ganz daneben.«
    Heinz bestellte mich für denselben Tag in der nächsten Woche, für die gleiche Stunde an denselben Ort. Ich freute mich kindisch auf das Wiedersehen. Ich zählte die Tage. Trotzdem bin ich schließlich nicht hingegangen. Es ist mir etwas dazwischengekommen.

Viertes Kapitel
I
    Georg Binnet kam plötzlich spätabends zu mir. Er war der einzige Mensch in Marseille, der wußte, wo ich wohnte. Doch war er noch nie in mein Zimmer gekommen. Soweit war damals unsere Freundschaft noch nicht gediehen. Der Junge sei plötzlich erkrankt, eine Art Asthma, an dem er bisweilen litt, doch nie so schwer wie diesmal. Er brauche dringend einen Arzt. Der alte Arzt in der Nachbarschaft sei ein versoffener Schmutzfink, er sei vor zehn Jahren von der Marine hinausgeworfen worden und im korsischen Viertel gelandet. Claudine behaupte, unter den deutschen Flüchtlingen gebe es gute Ärzte. Ich möchte einen in meiner Umgebung ausfindig machen.
    Ich hing an dem Jungen vom ersten Tag ab. Um seinetwillen verbrachte ich Stunden um Stunden auf den albernsten Komitees, um von dem dort erbeuteten Geld, das man für Abfahrtsvorbereitungen austeilte, die Dinge zu kaufen, die ihm fehlten. Ich schielte, wenn ich mit Binnets sprach, nach dem Fenster hin, wo er saß und lernte. Ich wählte auch unwillkürlich die Worte, die er verstehen konnte. Ich nahm ihn manchmal auf Bootsfahrten mit oder hinaus in die Berge. Zuerst war er ziemlich schweigsam gewesen. Ich glaubte, das jähe Zurückwerfen seines Kopfes, das Aufleuchten seiner Augen bedeute nichts mehr als das Spiel eines jungen Pferdes. Doch auch als bloßes Spiel erschien es mir gut. In dieser heruntergekommenen Welt beschwichtigte mich manchmal schon ein ruhiger, noch unschuldiger Blick, diesanfte und stolze Bewegung, mit der mir Claudine den Reis anbot, das überraschte Lächeln des Knaben, wenn ich eintrat. Dann merkte ich, daß ihm nichts entging, daß er sich über uns mehr im klaren war als wir über ihn. Jetzt kam mir die Krankheit, die ich gewiß übertrieb, wie ein Anschlag auf sein Leben vor, wie ein Versuch, ich weiß nicht welcher Macht, vielleicht ganz einfach der groben blöden gemeinen Wirklichkeit, sich seiner zu entledigen, die leuchtenden, unbequemen Augen für immer zu schließen. Ich war noch besorgter als Georg, den Arzt zu finden. Ich fragte in meinem Hotel. Man schickte mich in die Rue du Relais, eine winzige Gasse am Cours Belsunce. Dort wohnte im Aumage auf 83 ein ehemals berühmter Arzt, der frühere Leiter des Dortmunder Krankenhauses. Der Ausdruck

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