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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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mich damals sinnlose und langweilige Treue, Zuverlässigkeit, die mir uneinhaltbar dünkte, unbeirrbarer Glaube, der mir kindisch und nutzlos vorkam wie das Herumschleppen alter Fahnen auf uferlosen Schlachtfeldern. Jedesmal hatte sich Heinz von mir weggedreht mit einer Bewegung, die mir bedeutete: Ein Mensch bist zwar auch du, aber –
    Mein Hochmut hatte mich dann so lange abgehalten, mich ihm von neuem zu nähern, bis das andere Gefühl wieder stärker geworden war als mein Hochmut. Ich hatte wieder versucht, seine Augen auf mich zu ziehen, manchmal durch Hilfsbereitschaft, manchmal durch Albernheiten. Das kam mir alles ins Gedächtnis, als Heinz die paar Schritte auf mich zuging. Ich hatte die letzte Zeit Heinz fast vergessen, vergessen, was mich mit ihm verband. Ja, in Paris, auch noch unterwegs, hatte ich viel anihn gedacht, hatte ihn unbewußt gesucht in den gottverlassenen Horden, die die Straßen und Bahnhöfe füllten. In Marseille war er mir aus dem Kopf gekommen. Denn umgekehrt, wie man gewöhnlich annimmt, vergißt man zuweilen das Wichtigste rasch, weil es still in einen übergeht, weil es sich unmerkbar mit einem vermischt, während einem unwichtige Dinge oft durch den Sinn gehen, weil sie unvermischt an einem haftenbleiben.
    Als Heinz seinen Kopf kurz an mich lehnte – er konnte seine Hände nicht frei machen – und sein Blick mich wieder traf, da verstand ich auf einmal, was sein heller werdender Blick suchte und fast sofort wiederfand: mich selbst und sonst gar nichts, und ich wußte auf einmal auch zu meiner unendlichen Beruhigung, daß ich immer noch da war, daß ich nicht verlorengegangen war, in keinem Krieg und in keinem Konzentrationslager, in keinem Faschismus, in keinem Herumgeziehe, in keinem Bombardement, in keiner Unordnung, wie gewaltig sie auch gewesen war, ich war nicht verlorengegangen, nicht verblutet, ich war da, und auch Heinz war da.
    »Wo kommst du her?« fragten wir beide. Heinz sagte: »Ich bin von oben her nach Marseille hereingefahren, vor deinen Augen ausgestiegen. Denn ich muß zuerst auf das mexikanische Konsulat.«
    Ich erklärte ihm, das Konsulat sei auf ein paar Tage geschlossen. Wir setzten uns in ein kleines schmutziges Café. Damals gab es noch Kuchenverkauf an vier Wochentagen. Ich lief weg. Heinz lachte, als ich mit einem großen Paket zurückkam. »Ich bin ja doch kein Mädchen.« Ich merkte, daß er schon lange nicht mehr dergleichen gegessen hatte. Er erzählte: »Meine Freunde haben mich vor den Deutschen hergetragen. Sie wechselten untereinander ab. Wir sind über die Loire gekommen. Ich litt unterwegs, du kannst es mir glauben, daß ich ihnen zur Last war. Doch dann an der Loire, da war ein Fischer, der sagte, er bringe uns nur hinüber um meinetwillen. So glich es sich dann wieder aus. Da war freilich einer unteruns, du erinnerst dich wohl an den Hartmann, der mußte zurückbleiben, weil das Boot voll war. Er ließ mich mitfahren und blieb zurück.« – »Das ist doch sonderbar«, sagte ich, »daß du schließlich rascher als ich warst. Mich haben die Deutschen überholt.« – »Du warst wahrscheinlich allein. Damit ich nicht noch einmal in ein Lager rutschte, versteckte man mich in einem Dorf in der Dordogne. Jetzt hat man mir das Visum verschafft. Warum muß das Konsulat geschlossen sein, wenn ich ankomme?« Er sah mich kurz an, lachte und sagte: »Ich hab manchmal an dich unterwegs gedacht.« – »Du an mich?« – »Ja, ich habe an alle gedacht, auch an dich. Wie du immer unruhig gewesen bist, immer auf dem Sprung. Heute dieser Einfall, morgen ein anderer. Ich war sogar überzeugt davon, daß ich dich irgendwo noch einmal wiedersehe. Was machst du hier? Willst du auch abfahren?« Da erwiderte ich: »Keine Spur! Ich muß sehen, was aus allem wird. Ich muß sehen, wie das alles ausgeht.« – »Wenn nur unser Leben ausreicht, um diesen Ausgang zu sehen. Ich bin im Laufe der Ereignisse stark beschädigt worden. Ich kann dir nicht sagen, wie mir das Fahren bitter wird. Mein Name steht auf der Auslieferungsliste der Deutschen. Ich würde trotzdem irgendwo bleiben, wenn ich noch meine zwei Beine hätte. So lauf ich als mein eigener Steckbrief herum.«
    Ich sagte: »Ich kenne die Stadt schon gut. Gibt es etwas, wobei ich dir helfen kann? Du willst dir aber am Ende nicht einmal von mir helfen lassen.« Er lächelte, sah mich genau an, und seine Augen glänzten noch einmal genauso hell wie vorhin auf der Straße beim ersten Wiedersehen. Ich spürte auch noch

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