Transit
horchte sogar eine Weile hin, halb gelähmt vor Langeweile. Am anderen Tisch saß eine Gruppe von Einheimischen. Sie waren zwar nicht Marseiller, doch Festgesetzte, die hier ganz gut von der Furcht und der Abfahrtswut der Neuankömmlinge lebten. Sie erzählten sich lachend von einem Schiffchen, das zwei junge Ehepaare, die Männer waren gemeinsam aus dem Lager geflohen, für höllisch viel Geld gemietet hatten. Doch die Verkäufer hatten sie betrogen, das Schiffchen hatte ein Leck. Sie kamen bis an die spanische Küste. Da mußten sie wieder zurück. Sie fuhren noch in die Rhonemündung hinein, da wurden sie von der Küstenwache beschossen und bei der Landung gestellt. Ich hatte diese Geschichte auch schon hundertmal erzählen hören. Neu war mir nur der Schluß: Die Männer waren gestern zu zwei Jahren Bagno verurteilt worden. – Der Teil des Cafés, in dem wir saßen, stieß an die Cannebière. Ich konnte von meinem Platz aus den Alten Hafen übersehen. Ein kleines Kanonenboot lag vor dem Quai des Belges. Die grauen Schornsteine standen hinter der Straße zwischen den dürren Masten der Fischerboote über den Köpfen der Menschen, die den Mont Vertoux mit Rauch und Geschwätz erfüllten. Die Nachmittagssonne stand über dem Fort. Hatte der Mistral wieder begonnen? Die vorübergehenden Frauen hatten ihre Kapuzen hochgezogen. Die Gesichter der Menschen, die durch die Drehtür hereinkamen, waren gespannt von Wind und von Unrast. Kein Mensch bekümmerte sich um die Sonne über dem Meer, um die Zinnen der Kirche Saint-Victor, um die Netze, die auf der ganzen Länge des Hafendamms zum Trocknen lagen. Sie schwatzten alle unaufhörlich von ihren Transits, von ihren abgelaufenen Pässen, von Dreimeilenzone und Dollarkursen, von Visa de sortie und immer wieder von Transit. Ich wollte aufstehen und fortgehen. Ich ekelte mich. – Da schlug meine Stimmung um. Wodurch? Ich weiß nie, wodurch bei mirdieser Umschlag kommt. Auf einmal fand ich all das Geschwätz nicht mehr ekelhaft, sondern großartig. Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer, uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solange es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. Mütter, die ihre Kinder, Kinder, die ihre Mütter verloren hatten. Reste aufgeriebener Armeen, geflohene Sklaven, aus allen Ländern verjagte Menschenhaufen, die schließlich am Meer ankamen, wo sie sich auf die Schiffe warfen, um neue Länder zu entdecken, aus denen sie wieder verjagt wurden; immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod. Hier mußten immer Schiffe vor Anker gelegen haben, genau an dieser Stelle, weil hier Europa zu Ende war und das Meer hier einzahnte, immer hatte an dieser Stelle eine Herberge gestanden, weil hier eine Straße auf die Einzahnung mündete. Ich fühlte mich uralt, jahrtausendealt, weil ich alles schon einmal erlebt hatte, und ich fühlte mich blutjung, begierig auf alles, was jetzt noch kam, ich fühlte mich unsterblich. Doch dieses Gefühl schlug abermals um, es war zu stark für mich Schwachen. Verzweiflung überkam mich, Verzweiflung und Heimweh. Mich jammerten meine siebenundzwanzig vertanen, in fremde Länder verschütteten Jahre.
Am Nebentisch erzählte jetzt jemand von einem Dampfer namens »Alesia«, der, unterwegs nach Brasilien, von den Engländern in Dakar gestoppt worden war, weil er französische Offiziere an Bord gehabt hatte. Jetzt endeten alle Passagiere in einem afrikanischen Lager. Wie munter war der Berichterstatter! Wahrscheinlich weil diese Leute nicht ankamen, so wenig wie er selbst. Ich hatte auch diese Geschichte bereits unzählige Male anhören müssen. Ich sehnte mich nach einem einfachen Lied, nach Vögeln undBlumen, ich sehnte mich nach der Stimme der Mutter, die mich gescholten hatte, als ich ein Knabe gewesen war. O tödliches Getratsche! Die Sonne verschwand jetzt hinter dem Fort Saint-Nicolas. Es war sechs Uhr nachmittags. Ich sah gleichgültig über die Leute weg auf die Tür. Sie drehte sich wieder auf. Eine Frau kam herein. Was soll ich Ihnen darüber sagen? Ich kann nur sagen: sie kam herein. Der Mann, der sich das Leben nahm in der Rue de Vaugirard, hat es anders ausdrücken können. Ich kann nur sagen: sie kam herein.
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