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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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»ehemals« hatte mich auf einen alten Mann gefaßt gemacht. Ich vergaß, daß für diese Art Menschen die Zeit umschlug mit ihrer Ausreise aus der Heimat. Als ich vor der Tür 83 stand, hörte ich auf mein Klopfen die junge, ängstliche Stimme einer Frau, die ihren Gefährten beruhigte. Wahrscheinlich fürchteten beide eine Razzia um diese ungewöhnliche Stunde. Man öffnete mir zunächst, ohne herauszukommen. Ich sah nur den blauen seidenen Saum auf einem dünnen Handgelenk. Ich fühlte eine leise Regung von Eifersucht, wie sie mich manchmal grundlos befällt, vielleicht, weil dieser mir fremde Arzt so nützlich und fähig war, daß er gebraucht wurde, vielleicht, weil er nicht einmal alt war und die Frau, die ich gar nicht sah, vielleicht sanft und schön. Ich sagte: »Man braucht einen Arzt«, und die Stimme der Frau wiederholte, wie mir schien, mit einem Anflug von Freude: »Man braucht einen Arzt.«
    Gleich darauf kam der Mann heraus, er hatte ein rechtes Arztgesicht. Sein Haar war zwar schon ziemlich grau, doch sein Gesicht war jung. Mit dieser Jugend hatte es allerdings seine besondere Bewandtnis. Schon vor tausend, vor zweitausend Jahren hatte ein Arzt nicht anders ausgesehen,dasselbe Kopfnicken, derselbe aufmerksame, genaue, zugleich unbeteiligte Blick, der sich schon unzählige Male auf einzelne Menschen gerichtet hat, auf das am einzelnen Menschen, worauf auch der Zweifler den Finger legen kann, die körperlichen Leiden. Wir gaben an jenem Abend kaum aufeinander acht. Er fragte mich kurz nach dem Kranken. Für seine Begriffe war meine Auskunft ungenau. Ich war verwirrt durch meine Zuneigung für den Jungen.
    Wir überschritten schweigend das rohe, halb angelegte Gelände des Cours Belsunce. Auf der Nordseite standen immer noch Wagen von Flüchtlingen. Wäsche war aufgespannt. Hinter einem der Wagenfenster brannte noch Licht. Wir hörten im Innern lachen. Mein Begleiter sagte: »Die Leute haben schon längst vergessen, daß ihre Wagen Räder haben. Sie betrachten jetzt diese Ecke des Cours Belsunce als ihre Heimat.« – »Bis sie ein Polizist wegjagt.« – »Auf die andere Seite des Cours Belsunce. Bis sie ein anderer Polizist auf die andere Seite zurückjagt. Sie haben wenigstens keinen Ozean zu überqueren wie wir.« – »Wollen Sie, Doktor, auch einen Ozean überqueren?« – »Ich muß.« – »Warum müssen Sie?« – »Weil ich Kranke heilen will. In einem Krankenhaus in Oaxaca wird man mir eine Abteilung geben. Läge das Krankenhaus am Belsunce, dann brauchte ich nicht über den Ozean.« – »Wo liegt denn das?« – »In Mexiko«, sagte er ganz erstaunt, und ich sagte noch erstaunter: »Da wollen Sie auch hin?« – »Ich habe einmal in alten Zeiten den Sohn eines hohen Beamten dieses Landes geheilt.« – »Ist es schwer, dahin zu kommen?« – »Geradezu teuflisch schwer. Es gibt kein direktes Schiff. Die Schwierigkeit liegt beim Transit. Man braucht wahrscheinlich ein amerikanisches Schiff. Man muß über Spanien nach Portugal fahren. Jetzt heißt es freilich bisweilen, es gebe da noch eine andere Route: ein französisches Schiff nach Martinique, von dort über Kuba.« Ich dachte: Dieser Mann ist Arzt mit Leib und Seele. Er kann den Menschen helfen. Das ist eine andereAbfahrt als die meines Prager Totenschädels, der noch einmal einen Taktstock schwingen will.
    Auf dem Baugrundstück zwischen der Maternité und dem arabischen Café lagen die beiden Clochards, die auch bei Tage dort immer lagen. Ihre tagsüber zum Betteln erhobenen Arme waren unter den Köpfen gekrümmt. Sie schlafen gleichwohl in der Heimat, was sie auch betroffen haben mag. Sie schämen sich ebensowenig wie Bäume sich schämen, die verschimmeln und vermodern. Ihre Bärte sind verlaust, ihre Haut hat sich mit Schuppen bedeckt. So wenig wie Bäumen ist ihnen der Gedanke gekommen, ihre Heimat zu verlassen.
    Wir überquerten die Rue de la République, die jetzt völlig leer lag. Der Arzt sah sich aufmerksam um in dem schwarzen Gassengewimmel am Alten Hafen, um sich später ohne mich heimzufinden. Die Nacht war still und kalt.
    Ich schlug den Türklopfer in der Rue du Chevalier Roux. Der Arzt warf einen scharfen Blick auf Claudine, die Frau, deren Kind er heilen sollte. Dann ging er rasch durch die winzige Küche auf sein Ziel los, das Bett des Kindes. Er bedeutete uns, ihn allein zu lassen. Georg war bereits in der Mühle. Claudine stützte den Kopf auf den Küchentisch. Ein dünner Streifen zartesten Rosas, die Innenfläche

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