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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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der Hand, lief ihr Kinn entlang. Ich hatte sie immer nur mit den Augen wahrgenommen wie eine Blume oder eine Muschel, jetzt erst, durch den gemeinsamen Kummer, verwandelte sie sich in eine gewöhnliche Frau, die über Tag auf Arbeit war, für Mann und Kind sorgte, sich abplagte. Für Georg bedeutete sie nichts Zauberhaftes, viel weniger und viel mehr. Sie fragte mich nach dem Arzt aus, und ich, aus Eifersucht, übertrieb im Lob. Er trat darauf selbst in die Küche. Er tröstete Claudine in ungeschminktem Französisch, die Krankheit sehe sich schwerer an, als sie sei, man müsse sich nur davor hüten, das Kind, mit was auch, zu beunruhigen. Mir schien diese letzte Bemerkung auf mich gemünzt, obwohl er michüberhaupt nicht beachtete und ich mir auch nicht die geringste Schuld zuschreiben konnte. Er kritzelte ein Rezept. Ich begleitete ihn trotz seinem Widerspruch bis zur Rue de la République. Er beachtete mich auch jetzt nicht, er stellte auch keine Fragen über die Familie Binnet, als ob er dergleichen Fragen nicht schätzte und alles aus eigener Wahrnehmung lernen wollte. Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, dem ein Neuer gefällt, obwohl er sich über den Mangel an Beachtung ärgert. Ich kaufte noch in der Nacht die geforderte Arznei aus dem Komiteegeld für die Vorbereitung meiner Abreise.
    Als ich wieder zu Binnets hinaufkam, war das Kind schläfrig und beruhigt. Der Arzt hatte ihm für den nächsten Tag ein Schema des menschlichen Körpers versprochen, das man auseinandernehmen konnte. Der Knabe redete noch im Einschlafen von dem Arzt. Ich dachte, der Mann ist nur zehn Minuten hier gewesen, da gibt es schon eine neue Welt, Versprechungen, frische Träume.
II
    Ich komme jetzt auf das Wichtigste. Es war am 28. November. Ich habe das Datum behalten. Mein zweiter Aufenthaltsschein sollte in kurzem ablaufen. Ich grübelte, was ich machen solle. Noch einmal neu ankommen auf den Lagerentlassungsschein, den mir Heinz geschenkt hatte? Zu den Mexikanern hinaufgehen? Ich setzte mich in den Mont Vertoux. In diesem Café saß ich jetzt vier- bis fünfmal die Woche.
    Ich kam von den Binnets. Das Kind war damals schon fast gesund. Wir hatten mit dem Arzt, ich will nicht sagen Freundschaft geschlossen, dazu war er doch der Mann nicht – aber ganz gute Bekanntschaft. Er machte uns Spaß, er war anders als wir. Er erzählte immer zunächst von dem Stand seiner Abreise. Es gab auch bei ihm immer neue Zwischenfälle. Er sehe, sagte er, Tag und Nachtdie weiße Wand eines neuen Krankenhauses, die Kranken ohne Arzt. Seine Besessenheit gefiel mir. Seine Selbstüberschätzung belustigte mich. Der Arzt war bereits so vertraut mit dem Ort seiner späteren Wirksamkeit, daß er annahm, wir müßten es auch sein. Er hatte sein Visum bereits im Paß. Der Knabe drehte sich, wenn die Visengespräche begannen, mit dem Kopf zur Wand. Ich war damals noch so töricht, anzunehmen, daß sie ihn maßlos langweilten.
    Sobald der Arzt seinen Kopf auf die Brust des Kindes legte, um es abzuhorchen, wurde er selbst ruhig und vergaß seine Visen. Sein Gesicht, das gespannte Gesicht eines abgehetzten Mannes, der von irgendeinem Wahn behext ist, bekam einen Ausdruck von Weisheit und Güte, als richte sich plötzlich sein ganzes Dasein nach Weisungen anderer Ordnung als der von Kanzleibeamten und Konsuln.
    Ich dachte an die Umstände dieser Abreise und an meinen eigenen Aufenthalt. Das Café Mont Vertoux liegt Cannebière, Ecke Quai des Belges. Was später kam, warf keinen Schatten voraus, weit eher ein klares Licht, das mich und alles an jenem Nachmittag erhellte, auch das Müßigste und Belangloseste meines ohnedies belanglosen müßigen Daseins.
    Zwischen mir und dem Büfett gab es zwei Tische. An einem saß eine kleine Frau mit zottigem Haar, die immer da saß um dieselbe Zeit und immer den Stuhl schräg stellte und immer jedem dasselbe erzählte mit immer neuem Schreck in den Augen: wie sie ihr Kind bei der Evakuation von Paris verloren hatte. Sie hatte es auf ein Soldatenauto gesetzt, weil es müde geworden war. Da waren die deutschen Flieger gekommen, die Straße war bombardiert worden. Der Staub! Das Geheul! Und dann war das Kind nicht mehr da. Man hatte es erst Wochen später weitab in irgendeinem Gehöft gefunden, es würde nie mehr werden wie andere Kinder. An ihrem Tisch saß ein langer vertrackter Tscheche, der wollte durchaus nachPortugal, doch nur, um von dort nach England zu fahren, wo er mitkämpfen wollte, was er jedem zuflüsterte. Ich

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