Transit
Sie werden von mir auch keine Beschreibung verlangen. Ich hätte übrigens an diesem Abend nicht sagen können, ob sie blond oder dunkel gewesen war, eine Frau oder ein Mädchen. Sie kam herein. Sie blieb gleich stehen und sah sich um. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von angespannter Erwartung, fast von Furcht. Als hoffe und fürchte sie, jemand an diesem Ort zu finden. Was für Gedanken sie auch bewegen mochten, mit Visen hatten sie nichts zu tun. Sie ging zuerst quer durch den Teil des Raumes, den ich selbst überblicken konnte, der an den Quai des Belges stieß. Ich sah noch den spitzen Zipfel ihrer Kapuze gegen das große, jetzt graue Fenster. Ich wurde von Angst ergriffen, sie könne nie mehr zurückkommen, es gebe dort in dem anderen Teil des Raumes eine Tür, die ins Freie führe, sie könne nur einfach hindurchgegangen sein. Sie kam aber gleich drauf wieder zurück. Der Ausdruck von Erwartung in ihrem jungen Gesicht ging bereits in Enttäuschung über.
Bisher, wenn eine Frau an den Ort kam, wo ich war, eine Frau, die mir wohl gefallen konnte, doch nicht zu mir kam, dann ist es mir immer gelungen, festzustellen, daß ich sie dem gönnte, dem sie gefiel, daß mir nichts Unersetzliches abging. Die Frau, die eben an mir vorbeiging, gönnte ich niemand. Es war für mich furchtbar, daß sie hereingekommen war, aber nicht zu mir, es gab nur etwas, was ebenso furchtbar hätte sein können: wenn sie nichthereingekommen wäre. Sie sah sich jetzt noch einmal genau in dem Teil des Raumes um, in dem ich selbst saß. Sie suchte alle Gesichter ab, alle Plätze, wie Kinder suchen, zugleich gründlich und ungeschickt. Wer war der Mensch, nach dem sie verzweifelt suchte? Wer war imstande, so stark erwartet zu werden, so bitter zu enttäuschen? Ich hätte den Mann, der gar nicht vorhanden war, mit Faustschlägen bearbeiten mögen. – Zuletzt entdeckte sie unsere drei etwas abseitigen Tische. Sie sah sich die Menschen an diesen drei Tischen aufmerksam an. So töricht es war, ich hatte einen Augenblick die Empfindung, ich selbst sei der, den sie suchte. Sie sah mich auch an, aber leer. Ich war der letzte, den sie ansah. Sie ging jetzt wirklich hinaus. Ich sah noch einmal ihre spitze Kapuze draußen vor dem Fenster.
III
Ich ging zu Binnets hinauf. Der Arzt saß auf dem Kinderbett. Er hatte bereits seinen unvermeidlichen Tagesbericht über den Stand seiner Transitangelegenheit abgelegt. Sein grauer, kurz geschorener Kopf lag an dem blanken dunklen Körper des Knaben, und während er horchte, verklärte sich sein von Transitsorgen entstelltes Gesicht, sein Ausdruck von Hast und Zuspätkommens- und Zurückbleibensfurcht verwandelte sich in das Gegenteil: unendliche Geduld. Sein Wunsch, unter allen Umständen abzufahren, so rasch wie möglich, wer auch zurückbleiben möchte, verwandelte sich in Güte. Er schien mit nichts anderem beschäftigt zu sein und sich auch nichts anderes zu wünschen, als auf die Geräusche zu horchen, die ihn belehrten, wie dieser Knabe zu heilen sei. Der Knabe war auch still geworden; denn er bekam von dem Arzt die Beruhigung zurück, die er ihm selbst gewährt hatte. Der Arzt hob schließlich sein Gesicht, gab dem Kind einen leichten Klaps, zog sein Hemd herunter undwandte sich dann an die Familie. Denn er behandelte den Georg Binnet, da er nun einmal da war und sonst kein anderer, ganz als den Vater des Kindes. Mir erschien es sogar, er habe nicht bloß die Beziehungen Georgs zu dem Kind, selbst die zu seiner Geliebten etwas verändert, indem er beide an Eltern Statt einsetzte, da nun einmal bei einem kranken Kind Eltern gebraucht werden; er hatte fast unmerklich alle Verhältnisse in diesem Zimmer verändert, um die Heilung des Kindes zu beschleunigen. Doch wenn hier keine Krankheit mehr herrschen würde, dann waren ihm wieder alle gleichgültig.
Er erklärte gerade den Eltern, womit man das Kind ernähren solle. Ich saß auf Claudines Kohlenkiste. Ich hörte mir alles an. Ich betrachtete alles. Ich war plötzlich scharfsinnig geworden und hellhörig. So flüchtig war das gewesen, was ich soeben erlebt hatte, daß nichts mehr davon in mir zurückblieb als ein dünnes, gleichmäßiges Brennen und gleichzeitig, als sei ich plötzlich ausgedörrt, ein Gefühl von Durst. Ich fühlte plötzlich eine verrückte Eifersucht auf den Arzt. Ich war eifersüchtig auf ihn, weil er den Jungen heilte, der ihm vermutlich, einmal geheilt, vollständig einerlei wäre, und weil er eine gewisse Macht auf die Menschen
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