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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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uralten Priester, die in der heiligen Handlung betroffen werden, wenn ihre unheilige Stadt auf den Meeresgrund sinken muß, weil sie die Drohungen dessen verachtet hat, der diesen Felsen gründete. In ewiger bleicher Jugend, die nie heranreifen darf, trugen Chorknaben singend ihre Kerzen um die Säulen herum. Das dünne Geriesel vor unseren Gesichtern wurde zu zittrigem Wellenschlag. Gewiß, das Meer rauschte über uns. Auf einmal war der Gesang zu Ende. Mit jener gleichzeitig schwachen und harten Stimme, die Greisen eigen ist, begann der Priester uns zu beschimpfen wegen unserer Feigheit und unserer Verlogenheit und unserer Todesangst.
    Auch heute kamen wir nur hierher, weil dieser Ort uns sicher dünke. Doch warum ist dieser Ort denn sicher? Warum hat er denn die Zeit überstanden, die Kriegszügevon zwei Jahrtausenden? Weil der, der um das Mittelmeer in viele Felsen sein Haus schlug, die Furcht nicht gekannt hatte.
    »Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr durch Mörder, Gefahr unter Juden, Gefahr unter Heiden, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere, Gefahr unter falschen Brüdern.«
    Die Adern traten dem Greis aus der Stirn, seine Stimme erlosch. Die Kirche schien immer tiefer zu sinken, und furchtsam und zitternd vor Scham und Angst horchten die Menschen gleichsam auf das erbitterte Schweigen des Greises. Da fing der Gesang der Knaben an in seiner unerträglichen Engelsreinheit, sinnlose Hoffnung in uns erweckend, solange der Ton verschwebte. Und dumpf und Reue erweckend erwiderte ihm ein furchtbarer Ton aus der tiefen Brust des Greises.
    Ich rang nach Atem. Ich wollte nicht auf dem Meeresgrund klebenbleiben, ich wollte dort oben zugrunde gehen mit meinesgleichen. Ich stahl mich hinauf. Die Luft war kalt und klar. Die Sintflut hatte aufgehört. Der Mistral hatte ausgeblasen. Die Sterne glänzten schon in den Zinnen des Forts Saint-Nicolas, das der Kirche Saint-Victor gegenüber liegt.
VII
    Der Junge durfte am nächsten Tag zum erstenmal ausgehen. Claudine bat mich, ihn in die Sonne zu führen. Der Auftrag gefiel mir. Wir stiegen langsam die Cannebière auf der Sonnenseite hinauf. Die alte Eintracht war wieder da, fast ohne Anlaß, ein einfacher Wunsch, die Cannebière möge endlos sein, die Nachmittagssonne stillstehen, der Kopf des Jungen an meinen Arm gelehnt bleiben. Er zogdie Beine ein wenig träge und redete nur, wenn ich fragte. Er wolle einmal Arzt werden, sagte er. Ich fühlte sofort eine Regung von Eifersucht, obwohl ich wieder sein ganzes Vertrauen besaß und den ruhigen vollen Blick seiner Augen. Er war inzwischen so müde geworden, daß ich ihn beinahe nachzog. Ich lud ihn ein in ein Café am Cours d’Assas. Es gab leider keine Schokolade zu trinken, keinen Fruchtsaft, nur irgendein dünnes, grünlich gefärbtes Zeug. Und trotzdem erglänzte ein Anflug von Freude auf seinem Gesicht, die kostbaren Dingen zu gelten schien, wie man sie selten im Leben findet. Ich liebte ihn sehr. Ich sah über seinen Kopf durch das Fenster auf den mit gewundenen Bäumen bestandenen, noch immer sonnigen Platz. Gerade drängte sich eine Menschenmenge vor einem großen Haus. »Was ist denn dort los?« fragte ich. »Dort? Gar nichts«, sagte der Kellner. »Das sind nur Spanier. Sie stehen Schlange vor dem mexikanischen Konsulat.«
    Ich ließ den Jungen bei seinem grünlichen Saft. Ich ging hinüber. Ich sah an dem hohen Portal hinauf zu dem großen Wappenschild. Zu meinem Erstaunen glänzte es frisch, der Staub war von ihm abgefallen. Ich konnte jetzt sogar eine Schlange erkennen im Schnabel des Adlers. Die Spanier ihrerseits sahen mir zu und lächelten. Nur einer sagte ärgerlich: »Halten Sie die Reihe ein, mein Herr!« Ich trat also in die Reihe. Ich hörte vor und hinter mir reden, dieselben Sätze, die ich vor Monaten schon gehört hatte, vor dem Konsulat in Paris. Jetzt hieß es von neuem und mit noch größerer Gewißheit, von Marseille sollten Schiffe nach Mexiko abfahren. Man nannte auch wieder ihre Namen: »Republica«, »Esperanca«, »Passionaria«. Bestimmt mußten diese Schiffe abgehen, da man selbst auf den Namen beharrte, nie würden sie mit einem Schwämmchen abgewischt werden von den Tafeln der Schiffahrtsgesellschaften, nie würden ihre Bestimmungshäfen in Flammen aufgehen, für sie gab es keine unpassierbaren Meerengen. Auf einem

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