Transit
ausübte, nicht durch Schliche und List, sondern durch Wissen und Geduld. Ich war eifersüchtig auf seine Kenntnisse, auf seine Stimme, an der der Junge jetzt hing. Ich war eifersüchtig, weil er anders als ich war, weil er nicht litt, weil sein Mund nicht ausgedörrt war; weil etwas in dem Mann steckte, was ich mein Eigen nie nennen würde, so wenig er sich selbst jemals allein vernünftige Visen, Transits und Aufenthaltserlaubnisse beschaffen könnte.
Ich unterbrach ihn grob. Ich behauptete, daß die Heilkunst nichts tauge, ja, überhaupt nicht existiere. Nie sei ein Mensch in Wirklichkeit durch einen Arzt geheilt worden, sondern durch irgendwelche Zufälle. Er sah mich scharf an, als wolle er die Diagnose meiner Leidenschaft stellen. Dann sagte er ruhig, daß ich recht hätte. Er könneselbst nichts anderes tun, als von dem Kranken alles fernhalten, was seine Heilung störe, höchstens mit größter Vorsicht hinzufügen, was ihm mangle an Leib und Seele. Doch selbst, wenn ihm das alles gelinge, bleibe etwas, vielleicht das Wichtigste, was aber kaum zu erklären sei, etwas, was weder von seinem Kranken abhänge noch von ihm selbst, sondern von der ewig gegenwärtigen Fülle alles geliebten Lebens. Wir horchten auf – da fuhr der Arzt zusammen, sah nach der Uhr, rief uns zu, er habe eine Verabredung mit dem Sekretär des Konsuls von Siam, und der Konsul von Siam sei der Freund des Chefs einer Spedition, welche Visen nach Portugal ohne amerikanisches Transit ausgebe. Er lief hinaus, Georg lachte, das Kind drehte sich zur Wand.
IV
Der nächste Tag war wind- und sonnenlos. Die Luft war so grau wie das Kanonenboot, das immer noch am Alten Hafen lag. Die Leute wurden nicht müde, es anzustarren, als ob es ihnen erzählen könnte, was der Admiral Darlan mit ihm beabsichtigte; die Engländer näherten sich der tripolitanischen Grenze. Ob Frankreich seinen Hafen Biserta freiwillig den Deutschen überlasse, ob es sich weigere, ob die Deutschen darauf jetzt auch den Süden Frankreichs besetzen würden, das waren die Fragen des Tages. Falls das letzte geschah, dann könnten die Engländer uns die Stadt zusammenknallen. Alle Transitsorgen wären zunächst gelöst. Ich ging in den Mont Vertoux. Mein gestriger Platz war frei. Ich rauchte, und ich wartete. Das Warten am selben Ort war unsinnig. Wo hätte ich aber sonst warten sollen?
Die Stunde war längst vorüber, in der die Frau gestern gekommen war. Mir war es unmöglich, aufzustehen. Die Glieder wie Blei. Vom törichten Warten gelähmt. Vielleicht blieb ich jetzt nur noch sitzen, weil ich todmüde war.Das Café war stickvoll. Es war Donnerstag, Alkoholerlaubnis. Ich hatte selbst ziemlich viel getrunken.
Da trat Nadine an meinen Tisch, meine alte liebe Nadine. Wollen Sie, daß ich Nadine beschreibe? Ich sehe sie vor mir, wann ich will. Sie war und ist mir einerlei. Sie fragte mich, was ich die ganze Zeit getrieben hätte. – »Konsulate besucht.« – »Du? Seit wann willst du denn fahren?« – »Was soll ich denn sonst tun, Nadine? Alle fahren. Soll ich in einem eurer dreckigen Lager verrecken?« – »Meine Brüder sind auch in Lagern«, beruhigte mich Nadine, »einer im besetzten Gebiet, einer in Deutschland. Jede Familie hat ein paar Männer hinter Stacheldraht. Ihr Ausländer seid alle sonderbar. Ihr wartet nie ab, bis die Sachen von selbst vorbeigehen.« Sie fuhr mir leicht übers Haar. Ich wußte nicht, wie ich sie wegschicken könnte, ohne sie allzusehr zu verletzen. Ich sagte: »Wie du schön bist, Nadine, dir ist’s sicher inzwischen gut gegangen.« Sie erwiderte mit einem schlauen Lächeln: »Ich hab Glück gehabt.« Sie bückte sich, daß sich unsere Gesichter berührten. »Er ist bei der Marine. Seine Frau ist viel älter als er. Außerdem ist sie ihm jetzt in Marrakesch hängengeblieben. Er sieht gut aus. Leider ist er viel kleiner als ich.« Sie machte eine Bewegung, die sie in den Dames de Paris gelernt hatte. Sie schlug ihren Mantel ein wenig zurück, so daß man die helle Seide sah, mit der er gefüttert war, und ihr neues sandfarbiges Kleid. Ich war verblüfft durch diese eindeutige Darstellung eines irdischen Glücksfalls. Ich sagte: »Mach dir den Mann ja nicht scheu! Er wartet.« Sie fand, das schade nichts, doch schließlich gelang es mir trotzdem, sie wegzubringen durch eine Verabredung auf acht Tage später. Ich hatte dabei das Gefühl, daß diese Verabredung nie zustande komme. Ich hätte mich ebensogut auf acht Jahre später verabreden
Weitere Kostenlose Bücher