Transit
Belges übergewechselt, wo man immerhin auf den Hafen sah. Ich saß wie gelähmt. Zu Binnets hinaufgehen? Ich kann ihnen auch nicht immer auf der Pelle liegen.
Auf einmal klopfte mein Herz, bevor meine Augen die Frau noch erkannt hatten. Sie kam herein, ging zwischen den Tischen herum. Ihre Traurigkeit steckte mich an. Mir wurde bang. Ich stand auf, als sie näher kam. Sie gab mir freudlos die Hand. Ich aber sagte: »Jetzt setzen Sie sich an diesen Tisch. Jetzt trinken Sie, was ich bestelle. Jetzt hören Sie mich an.« Sie setzte sich gleichgültig neben mich. Sie fragte müde: »Was wollen Sie von mir?« – »Ich? Nichts. Nur wissen, was Sie suchen. Sie suchen ja von morgensbis abends, in allen Straßen, an allen Orten.« Sie sah mich verwundert an, dann sagte sie: »Warum fragen Sie mich? Wollen Sie mir etwa helfen?«
»Kommt Ihnen das so sonderbar vor, ein Hilfsangebot? Was suchen Sie? Wen?«
»Ich suche einen bestimmten Mann, von dem einmal behauptet wird, daß er da, das andere Mal, daß er dort sitzt. Nur wenn ich selbst komme, ist er immer schon fort. Ich aber muß ihn wiederfinden. Das Glück meines Lebens hängt davon ab.« Ich unterdrückte ein Lächeln. Das Glück des Lebens! Ich sagte: »Das kann nicht schwerhalten, einen Mann in Marseille zu finden. Eine Frage von Stunden, wenn es darauf ankommt.«
Sie sagte traurig: »Das hab ich zuerst selbst gedacht. Der Mann ist wie verhext.« – »Ein sonderbarer Mann. Kennen Sie ihn selbst genau?« Ihr Gesicht wurde etwas bleicher. »O ja, ich kenne ihn gut. Er war mein eigener Mann.«
Ich nahm ihre Hand. Sie sah mir ernst ins Gesicht mit zusammengezogenen Brauen. »Wenn ich diesen Mann nicht finde, kann ich nicht abfahren. Er hat alles, was mir fehlt. Er allein hat das Visum. Er allein kann mir mein Visum verschaffen. Er muß vor dem Konsulat erklären, ich sei seine Frau.« – »Um dann mit dem anderen zu fahren, dem Arzt, wenn ich alles richtig verstehe?«
Sie zog ihre Hand zurück. Ich hatte etwas zu streng gesprochen, das bereute ich jetzt. Sie sagte mit gesenktem Gesicht: »So ähnlich, so ungefähr.« Ich nahm ihre Hand zurück. Sie ließ sie gedankenlos in meiner. Mir erschien das viel. Sie sagte zu sich selbst: »Das Schlimme ist, daß ich den einen nicht finde, den anderen nur aufhalte. Er hat schon lange nutzlos auf mich gewartet, der zweite, der andere. Er hat seine Abreise meinetwegen verschoben. Er kann nicht mehr länger warten. Nur meinetwegen.«
Ich sagte: »Gut! Man muß zuerst einmal alles klären, der Reihe nach. Wer sagt Ihnen, daß der Mann hier ist? Wer hat ihn gesehen?«
Sie antwortete: »Die Angestellten des Konsulats. Erwar erst vor kurzem dort, um sein Visum abzuholen. Der Kanzler des mexikanischen Konsulats hat ihn selbst mehrmals gesprochen, darüber kann gar kein Zweifel bestehen, auch der Korse im Reisebüro.«
Warum wurde ihre kühle Hand kalt zwischen meinen warmen Händen? Sie rückte dicht an mich heran. Und ich, ich wünschte mir jetzt einen Augenblick lang, ihr Bild möge sich verflüchtigen, möge wieder verfliegen im Mistral dieser Stadt. Doch hätte sie’s jetzt wohl gelitten, wenn ich den Arm um sie legte. Nur wie ein Kind, das aus Furcht an einen erwachsenen Menschen anrückt. Doch ich, ich war angesteckt von dieser kindischen, unergründlichen Furcht. Ich fragte leise, als ob wir über verbotene Dinge redeten: »Woher kam er denn nach Marseille? Aus dem Krieg? Aus einem Lager?«
Sie erwiderte mir im selben Ton: »Nein, aus Paris. Wir wurden getrennt, als die Deutschen kamen. Er blieb dort hängen. Ich schickte ihm, als ich hier ankam, sofort einen Brief. Sofort. Ich traf eine Frau, die ich kannte. Die Schwester eines Menschen, den wir früher gekannt hatten. Ein gewisser Paul Strobel. Und diese Frau hatte eine Freundin, die war die Braut eines französischen Seidenhändlers. Der fuhr in seinen Geschäften hinauf ins besetzte Gebiet. Ich beschwor ihn, den Brief in Paris abzugeben. Das hat er auch getan. Ich weiß es.«
Sie rief plötzlich: »Was haben Sie denn? Was fehlt Ihnen?«
Ich ließ ihre Hand los. Was, loslassen! Ich warf ihre Hand auf den Tisch.
»Mir fehlt gar nichts. Was sollte mir fehlen? Das spanische Transit höchstens, wie? Auch das nicht mehr lange. Nur weiter!«
»Es gibt kein Weiter mehr. Das ist alles.« Ich sagte, ohne sie anzusehen: »Die Konsuln sehen jeden Tag Hunderte von Gesichtern. Ein Name ist ihnen nichts. Vielleicht ist er gar nicht hier. Vielleicht ist er immer noch in Paris.
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