Transit
alle Beamten der Stadt und für alle Konsulate. Ich werde von neuem flüchten müssen, und ehe ich sie noch gewonnen habe, meine Liebste verlieren.
Doch als man den Namen Weidel ausrief, wurde ich ruhig. Ich fürchtete mich vor keiner Entlarvung mehrund vor keiner Verweigerung. Ich spürte den unermeßlichen, den uneinholbaren Abstand, der diesen aufgerufenen Mann von dem Konsul trennte, der Fleisch und Blut, dürr das eine, dünn das andere, gleichmütig hinter dem Schreibtisch saß. Ich sah, als stünde ich außerhalb meiner selbst, mit Neugierde dieser Geisterbeschwörung zu, der Aufrufung eines Schattens, der sich längst in irgendeiner der schemenhaften, verwesenden, hakenbekreuzten Totenstädte verflüchtigt hatte.
Er aber, der Konsul, musterte mich, den Lebenden, der zwischen ihm und dem Schatten stand, mit hochmütiger Genauigkeit. Er sagte: »Sie heißen Seidler? Sie schreiben unter dem Namen Weidel. Warum?« Ich sagte: »Bei Schriftstellern kommt es häufig vor.«
»Was hat Sie bewogen, Herr Weidel-Seidler, sich um ein mexikanisches Visum zu bewerben?«
Ich antwortete auf seine strenge Frage mit bescheidener Offenheit: »Ich habe mich nicht beworben, ich nahm das erste Visum, das sich mir bot. Das entsprach meiner Lage.«
Er sagte: »Wie kommt es, Herr, daß Sie sich niemals um Einreise in die Vereinigten Staaten bemüht haben als Schriftsteller, wie die meisten Ihrer Kollegen?« Ich antwortete diesem Manne: »Wo hätte ich wohl diesen Antrag stellen sollen? Bei wem? Wie? Ich, außerhalb der Welt. Die Deutschen zogen ein! Der Abend aller Tage war gekommen.«
Er tickte mit dem Bleistift. »Das Konsulat der Vereinigten Staaten versah gleichwohl seinen Dienst am Place de la Concorde.«
»Wie hätte ich das erfahren sollen, Herr Konsul? Ich ging nicht mehr auf den Concorde. Unsereins zeigte sich nicht auf den Straßen.« Er runzelte die Stirn. Ich wurde gewahr, daß in seinem Rücken die Schreibmaschinen das ganze Verhör mitklapperten. Ein wenig Geklapper mehr in dem großen Lärm, der großen Furcht vor der Stille.
»Welchen Umständen, Herr Seidler, verdanken Sie die Ausstellung Ihres mexikanischen Visums?« – »Vermutlich günstigen Zufällen«, erwiderte ich, »und irgendwelchen guten Freunden.« – »Warum irgendwelchen? Sie haben gewisse Freunde in den Kreisen der ehemaligen Regierung der ehemaligen spanischen Republik, die heute mit gewissen Kreisen der mexikanischen Regierung verbunden sind.«
Ich dachte an meinen armen Toten, in Hast bestattet, an seine klägliche Hinterlassenschaft. Ich rief: »In einer Regierung? Freunde? Gewiß nicht!«
Er fuhr fort: »Sie haben der ehemaligen Republik gewisse Dienste erwiesen, für ihre Presse gearbeitet.«
Ich dachte an das Bündelchen Papiere auf dem Boden des Handkoffers, an jenes vertrackte Märchen, das mich, wie lang war das alles her, an einem traurigen Abend benommen hatte. Ich rief: »Ich habe nie dergleichen geschrieben.«
»Verzeihen Sie, wenn ich auch hier wieder Ihrem Gedächtnis nachhelfe. Da gibt es zum Beispiel aus Ihrer Feder eine gewisse, in zahlreiche Sprachen übersetzte Darstellung von den Erschießungen in Badajos.« – »Von was, Herr Konsul?« – »Von den Massenerschießungen von Roten in der Arena von Badajos.«
Er sah mich scharf an. Er schrieb gewiß mein Erstaunen der unüberbietbaren Vollständigkeit seines Wissens zu. Ich war auch unmäßig erstaunt. Was auch meinen Toten bewogen hatte, jene Begebenheit aufzuschreiben, die ihm jemand erzählt haben mochte, er hatte ihr sicher den Zauber verliehen, der jetzt mit ihm im Grab lag. Erloschen, zerbrochen lag sie bei ihm, die Wunderlampe, die alles für immer erhellte, worauf er sie je gerichtet hielt, zumeist auf verzwickte Abenteuer, doch einmal auch auf diese Arena. Wie blöd war mein Toter gewesen, daß er sie selbst ausgeblasen hatte. Wer die Lampe hat, so heißt es doch, nicht wahr, dem gehorcht der Geist der Lampe. Ich hätte viel darum gegeben, die Begebenheit zu lesen.
Ich sagte: »Ich habe nie vorher, nie nachher etwas Ähnliches geschrieben.«
Der Konsul stand aufrecht da und sah mich mit einem Blick an, den man hätte durchdringend nennen können, wenn er nur den richtigen durchdrungen hätte.
Er fragte: »Haben Sie hier einen Bürgen?«
Woher, in aller Welt, sollte ich einen Bürgen nehmen, der dem Konsul beschwor, daß mein Toter nie vorher, nie nachher etwas Ähnliches geschrieben habe, der beschwor, daß mein Toter nie mehr über die Massenerschießung
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