Transit
mich bleiben ließ, die unsinnigsten Abfahrtsbeweise zu beschaffen.
Mit mistralverzerrten Gesichtern drängten sich die Menschen in den Vorraum des amerikanischen Konsulats. Hier war es wenigstens warm. Seit ein paar Tagen gesellte sich noch die bitterste Kälte zu allen Leiden der Abfahrtssüchtigen.
Der Türhüter der Kanzlei des Konsulats der Vereinigten Staaten stand, stark wie ein Boxer, hinter dem aktenbeladenen Tisch, der den Aufgang der Treppe versperrte. Er hätte mit einer kleinen Bewegung seines mächtigen Brustkorbs den ganzen dürren Schwarm Abfahrtsbesessener hinausschieben können, die an diesem Morgen ein eisiger Windstoß auf den Place Saint-Ferréol trieb. Wie Kalk lag der Puder auf den von Kälte gesteiften Gesichternder Frauen, die nicht bloß sich und die Kinder, sondern auch ihre Männer geputzt hatten, um Gnade bereits vor den Augen des Türhüters zu erlangen. Er drehte zuweilen mit seiner gewaltigen Hüfte den aktenbeladenen Tisch, so daß ein Spalt frei wurde, ein Nadelöhr, durch das ein bevorzugter Transitär nach oben steigen konnte.
Ich erkannte kaum den Kapellmeister wieder ohne Sonnenbrille. Der eisige Mistral der letzten Tage hatte ihn völlig verheert, soweit ein Mistral noch ein Gerippe verheeren kann. Er war aber fein gescheitelt, er zitterte freudig. »Sie hätten früher beginnen sollen. Ich werde heute das Konsulat mit meinem Transit verlassen.« Er drückte die Ellenbogen an sich, damit sein schwarzes Fräckchen in dem Gedränge nicht Not leide.
Die Wartenden gerieten plötzlich in Wut. Meine eigene Zimmernachbarin, bunt gekleidet, zog gleichmütig ein mit ihren zwei Doggen an straffen Leinen. Der Türhüter aber, der bereits wußte, daß sie dem Konsul genehm war, gab augenblicklich den Weg zwischen Tisch und Treppe frei mit einer stumpfen Ehrerbietung, als seien die beiden Doggen die durch einen Bann verzauberten Bürgen. Ich hatte die kleine Bresche genutzt, ich sprang der Hundefrau nach. Ich warf dem Türhüter meinen Anmeldeschein zu, Seidler, genannt Weidel. Der Türhüter schrie, da sah er, wie mich die Hunde vertraut begrüßten, worauf er mich aufwärtsziehen ließ in die Region der Konsulatssekretariate.
Auch hier gab es wieder Warteräume. Die Hunde erschreckten hier oben ein halbes Dutzend kleiner jüdischer Kinder. Die drängten sich um ihre Eltern und ihre Großmutter, eine gelbe, starre Frau, die so alt war, als sei sie nicht durch Hitler, sondern durch das Edikt der Kaiserin Maria Theresia aus Wien vertrieben worden. Um festzustellen, was dieser Lärm bedeute, erschien aus einer der Konsulatstüren ein junges Fräulein, das sicher den ganzen Krieg, die ganze Verheerung der Erde auf einem Wölkchen schwebend verbracht hatte, so zart und rosawie ihr Gesicht. Sie führte lächelnd und flügelschlagend die ganze Familie, die aber beklommen und düster blieb, gegen den Schreibtisch des Konsuls. Ich fühlte in meiner Ansteckung von Transitärwut, in meinem eigenen Nebel von Visumbesessenheit, ein Augenpaar auf mich gerichtet. Ich fragte mich, wo ich dem Mann schon einmal begegnet war, der mich jetzt ruhig musterte, da er die anderen Wartenden schon gemustert und augenblicklich nichts Besseres zu tun hatte. Er trug seinen Hut in der Hand – ich hatte gestern auf dem Reisebüro nicht wahrnehmen können, daß er fast kahl war. Wir begrüßten uns nicht. Wir lächelten uns nur spöttisch an, weil jeder von uns sich im klaren darüber war, daß wir wohl oder übel einander noch hundertmal treffen mußten als Mittransitäre, wodurch unser Leben nun einmal verknüpft war, selbst gegen unsere Neigung und gegen unseren Willen und sogar gegen das Schicksal. Dann kam auch mein Kapellmeisterlein. Er hatte rote Flecken auf seinen Kinnbacken. Seine Knöchelchen zuckten. Er zählte Photographien ab, wobei er uns ständig versicherte: »Es waren zwölf im Hotel, ich schwöre es Ihnen.« Meine Zimmernachbarin nutzte die Zeit, ihre Hunde zu bürsten.
Ich schäme mich, es einzugestehen: Mein Herz klopfte damals bange. Ich gab eine Weile nicht mehr auf die Menschen acht, die nach mir einzeln, mit dünnem Atem, den zweiten, höheren Warteraum betraten. Ich dachte: Wie auch der Mensch aussehen mag, den man Konsul nennt, er hat Macht über mich, das ist sicher. Zwar ist seine Macht, zu lösen und zu binden, nur auf sein eigenes Land beschränkt. Doch wenn er mir jetzt das amerikanische Transit verweigert, dann bin ich gebrandmarkt als ein mißratener Transitär, gebrandmarkt für
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