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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Vielleicht –«
    Sie hob blitzschnell ihre Hand in einer fast wilden Warnung. Sie starrte mich an und sagte mit veränderter, rauher Stimme: »Es gibt kein Vielleicht. Man hat ihn an vielen Orten gesehen. Man hat ihn viermal im Mont Vertoux gesehen. Der Kanzler des mexikanischen Konsulats sah ihn im Roma, nicht nur auf dem Konsulat. Der Korse sah ihn im Reisebüro und später in einem Café am Quai des Belges. Er sah ihn auch in einem kleinen Café am Quai du Port. Nur ich komme immer zu spät.« – »Sie haben doch sicher gedrängt auf dem mexikanischen Konsulat? Die Angestellten bestürmt? Nach dem Mann forschen lassen?« – »O nein, das habe ich nicht getan. Denn gleich bei meinem ersten Besuch, als ich merkte, daß die Adresse nicht stimmt, die er dort auf dem mexikanischen Konsulat zurückließ, da war mir klar, daß er wohl unter falschen Papieren zugereist sei, vielleicht unter einem anderen Namen, so daß ich keinesfalls forschen darf, auffällige Fragen stellen, weil ich sonst alles zugrunde richten kann, für ihn und daher auch für mich. Verstehen Sie?«
    Gewiß, ich hatte alles verstanden. Die Trauer würde nie mehr von mir weichen. Das war die Hinterlassenschaft meines Toten. Ich war es, der litt.
    Ich sagte: »Sie wollen zu diesem Visum kommen. Ohne Mann kein Visum. Sie haben den Mann bewogen, hierher zu fahren, durch die Hoffnung auf ein neues gemeinsames Leben.« Sie sah mich mit klaren, weitgeöffneten Augen an, den Augen des Kindes, das noch die Lüge scheut, was für Streiche es auch sonst begeht. Ich fragte weiter: »Jetzt lieben Sie diesen Arzt?«
    Sie sagte nach einem leichten Zögern, das ich begierig in mich aufnahm: »Er ist sehr gut.« – »Mein Gott, Marie, ich hab Sie nicht nach seiner Güte gefragt.« Wir schwiegen eine Zeitlang. »Kommt es Ihnen nicht sonderbar vor, daß ihr Mann, falls er wirklich hierher gekommen ist, Sie nicht gesucht hat, nicht alles getan hat, um Sie wiederzufinden?« Sie legte die Hände ineinander. Sie sagte leise: »Gewiß, das kommt mir sonderbar vor. Viel mehr als sonderbar.Trotzdem, er muß hier sein, seine Anwesenheit ist bezeugt. Er weiß vielleicht, daß ich mit einem anderen Mann hier bin. Er will mich nicht mehr wiedersehen. Er kümmert sich nicht mehr um mich.«
    Ich ergriff wieder ihre Hand. Ich versuchte, meine Traurigkeit zu bezwingen, das Vorgefühl eines Unglücks. Ich würde, einmal mit ihr allein, schon alles in Ordnung bringen. Ich mußte zuerst den zweiten Mann, den Arzt, rasch und weit wegschicken. Und was ich von den Forderungen des anderen zu halten hatte, das wußte ich selbst am besten. Ich glaubte wenigstens damals, es zu wissen.
    Ich sagte: »Sie fürchten sich wohl vor dem Wiedersehen?« Ihr Gesicht verschloß sich. »Gewiß, ich fürchte mich auch, nach allem, was geschehen ist. Ein Wiedersehen nach so langer Zeit ist beinah so schwer wie ein Abschied.« Ich sagte: »Am besten wäre es daher für Sie, man könnte alles auf dem Papier erledigen. Im Dossier, auf den Konsulaten. Man trägt Ihren Namen in sein Visum ein. Man gibt Ihnen eine Bestätigung für das Visa de sortie. Ich habe gewisse Beziehungen. Ich könnte sehen, was sich tun läßt?«
    »Und wenn ich ihn auf dem Schiff wiedersehe? Zusammen mit dem anderen?« – »Der andere muß über Oran fahren. Ich werde ihm dazu verhelfen.« – »Das Ende wird sein, daß ich hier allein bin.« – »Allein? Ach so. Warum fürchten Sie sich, allein zu sein? Sie fürchten sich vielleicht, im Bompard eingesperrt zu werden? Vergessen Sie nicht, daß ich da bin. Ich werde jetzt gut auf Sie achtgeben.« – Sie sagte ruhig: »Ich fürchte mich nicht. Denn wenn ich allein zurückbleiben muß, dann ist es mir gleich, ob ich in Freiheit bin oder eingesperrt, im Bompard oder in sonst einem Lager. Auf der Erde, unter der Erde.«
    Ich hatte bei ihren Worten die Vorstellung eines völlig leeren, völlig von Menschen geräumten Erdteils, das letzte Schiff abgefahren und sie allein zurückgeblieben in der vollkommenen Wildnis, die alles sofort überwuchert hatte.

Sechstes Kapitel
I
    Damals hatten alle nur einen einzigen Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben.
    Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern! – So lange hören ihnen die Menschen gierig zu, wie sie von Abfahrten sprechen, von beschlagnahmten und nie angekommenen Schiffen, von gekauften und von gefälschten Visen und von neuen

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