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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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vorbeizogen.
    Auf einmal kam mir der Argwohn ins Herz, sie lege nur ihre Hand in meine Hand, sie suche mich nur, damit ich ihr dieses verfluchte Visum verschaffe, damit sie abziehen könne mit dem anderen. Denn hatte sie nicht auch den Toten bewogen, sich zu ihr zu gesellen, um abzufahren mit dem anderen? Ich sah sie argwöhnisch von derSeite an. Ich sah auf ihrem bleichen Gesicht die Schatten dichter Wimpern. Da war mir alles einerlei. Ich jedenfalls lebte, sie saß jetzt neben mir. Ich fragte: »Woher bist du eigentlich?«
    Ich freute mich, weil die Trauer aus ihrem Gesicht verflog, als hätte ich sie an etwas Gutes erinnert. Sie lächelte und sagte: »Ich bin aus Limburg an der Lahn.« – »Wer waren denn deine Eltern?« – »Warum waren? Ich hoffe, sie leben beide noch. Sie leben gewiß in dem alten Haus in der alten Gasse. Jetzt sind es wir Jungen, die sterben. – Ich glaube, sie waren seit ihrer Hochzeit nie einen Tag getrennt. Wie war mir als Kind doch bang zumut in dem niedrigen Zimmer unter meiner Familie. Und ihr Gerede lief immer weiter, zärtlich und dünn, wie das Brünnlein unter dem Fenster. Ich wünschte mich weg, weit weg, kannst du das verstehen? Die Hofmauern waren rot im Herbst vom Wein, es gab im Frühjahr Flieder und Rotdorn.« – Ich sagte: »Es gibt ihn immer noch.« – »Und dann das Wiesenschaumkraut am Wasser –« – »Möchtest du nicht einfach zurückfahren?« – »Zurück? Diesen Rat hat mir bisher noch niemand gegeben. So schlecht ist er nicht. Aber –« – »Ja, aber.« Ich wiederholte die Worte Claudines: »Ein Blatt kann eher zu seinem alten Zweig zurückfliegen.« – Sie sagte vor sich hin: »Der Mensch ist kein Blatt. Er kann hin, wohin er will. Er kann auch zurück.« Ihre Antwort bestürzte mich, als hätte mir ein Kind auf einen törichten Einfall weise geantwortet. »Wie bist du eigentlich an den Weidel geraten?« Ihr Gesicht verfinsterte sich. Ich bereute meine Frage.
    Da lächelte sie leichthin. »Ich besuchte Verwandte. Ich war in Köln. Ich saß auf einer Bank auf dem Hansaring. Da kam der Weidel und setzte sich neben mich in die Sonne. Wir schwatzten miteinander. Noch nie hatte irgend jemand auf diese Weise mit mir gesprochen. Solche Menschen kamen nie zu uns. Ich vergaß sein mürrisches Gesicht. Ich vergaß seine kurze Gestalt. Ich glaube, er staunte auch über mich. Er hatte immer allein gelebt. Wirtrafen uns oft. Ich war sehr stolz, mich mit einem solchen Mann zu treffen, so klug, so alt. Dann sagte er mir, daß er abreisen müsse. Er könne das Land nicht mehr ertragen. Das war im ersten Hitlerjahr. Mein Vater konnte zwar auch den Hitler nicht leiden, doch war es sehr weit bis zum Nichtmehrertragen. Ich fragte Weidel, wohin er gehe. Er sagte: ›Weit weg und für lange.‹ – ›Ich hätte auch einmal gerne fremde Länder gesehen‹, erwiderte ich. Er fragte mich, ob ich mitfahren wolle, so wie man zum Spaß die Kinder fragt. Ich sagte ja. Er sagte zum Spaß: ›Gut, heute abend.‹ Am Abend stand ich am Bahnhof. Sein Gesicht erschreckte mich, daß ich zitterte. Er starrte mich an und starrte mich an. Du mußt begreifen, er war fast immer allein. Er war auch nicht besonders schön anzusehen. Er war eher häßlich und schlecht. Und ich, wie war ich doch jung. Er war wohl kein Mensch, verstehst du, der – nun der, verstehst du, der oft, der leicht geliebt wurde. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: ›Nun gut, komm mit!‹ Wie einfach fing es doch an. Es war für mich das einfachste von der Welt! Wie hat sich doch alles verwirrt. Warum? Wodurch? Wir fuhren nach dem Süden. Wir fuhren über den Bodensee. Er zeigte mir alles. Er lehrte mich alles. Und schließlich von einem Tag auf den anderen war ich des Lernens müde. Er war auch gewohnt, allein zu sein. Wir zogen in allen möglichen Städten herum. Wir kamen nach Paris. Er schickte mich oft weg. Wir waren arm, wir hatten ein einziges Zimmer. Da lief ich denn in den Straßen herum, damit er allein sein konnte –«
    Auf einmal veränderte sich ihr Gesicht, sie wurde bis in die Lippen bleich, sie starrte in den müßigen, ziellosen Strom von Menschen hinter der Scheibe, sie rief: »Da kommt er!« Ich packte sie an der Schulter. Sie machte sich mit einer wilden Bewegung los. Ich sah jetzt, wen sie sah: den kleinen grauen, etwas schweren Mann mit mürrischen Zügen, der eben in den Mont Vertoux eintrat, wobei er Marie anstarrte, wie mir schien, mit Strenge undÄrger. Er starrte auch mich mürrisch

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