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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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man faßt, wodurch auch sonst? Wir zumindest sind ja lebendig, abreisefähig, keine Geister, die nur herumflattern.«
    Der Arzt trank endlich sein erstes Glas aus. Dann sagte er, als ob die Frau nicht dabeisäße: »Sie halten wohl viel von der Liebe zwischen Mann und Frau?« – »Ich? Keine Spur! Ich halte viel mehr von weniger glänzenden, weniger besungenen Leidenschaften. Doch leider ist etwas fest vermischt mit dieser flüchtigen, fragwürdigen Sache, etwas tödlich Ernstes, es hat mich schon immer gestört, das Wichtigste auf der Welt so vermischt mit dem Flüchtigsten und Belanglosesten. Zum Beispiel, daß man einander nicht im Stich läßt, das ist auch etwas an dieser fragwürdigen windigen, ich möchte sagen transitären Angelegenheit, was nicht fragwürdig ist und nicht windig und nicht transitär.«
    Wir sahen plötzlich beide Marie an, sie horchte atemlos. Ihre Augen waren weit offen. Ihr Gesicht war rot von dem Pizzafeuer. Ich ergriff ihren Arm. »Wie Sie schon im ersten Schuljahr gelernt haben, schon in der ersten Bibelstunde: Das hält ja nicht lange vor. Es vergeht ohnedies. Aber es kann auch schon vorher versengt werden, nämlich, wenn die Falle doch zugeht, wenn die Stadt bombardiert wird, es kann zerfetzt werden, kann verkohlen, wie sagt ihr Ärzte? Eine Verbrennung ersten, zweiten und dritten Grades.«
    Jetzt kam die große Pizza, die der Arzt für uns drei bestellt hatte. Zu der Pizza kam auch ein frischer Rosé. Wir tranken rasch. »Man rechnet schon in gewissen französischen Kreisen«, sagte der Arzt, »auf dieses Frühjahr mit gaullistischen Unruhen.« Ich sagte: »Ich verstehe nichts davon. Ich meine aber, ein Volk, das so viel hinter sich hat an Verrat und Imstichlasserei und versautem Blut und verdrecktem Glauben, das muß erst noch wieder zu sich kommen.« – »Ich glaube auch gar nicht«, sagte der Arzt, »daß der junge Koch, der da hinten die Pizza schlägt, in diesem Frühjahr Lust hat, zu sterben.« – Ich rief: »Sie verstehen mich nie recht. Das hab ich gar nicht gemeint. Warum müssen Sie diesen Koch beleidigen, Sie, der Sie mit nichts anderem beschäftigt sind, Tag und Nacht, als wie man am besten abhaut? Sein Mann ist noch nicht gekommen. Seine Stunde ist noch nicht gekommen.« – »Lassen Sie bitte jetzt ruhig Mariens Arm los«, sagte der Arzt, »Ihre Beweisführung ist ja beendet.«
    Wir tranken aus, was es gab. »Ich habe keine Brotkarten mehr für eine zweite Pizza«, sagte Marie. Also standen wir auf. Als wir aus dem Feuerschein traten, merkte ich erst, wie bleich sie war.
X
    Ich traf Marie in einem kleinen Café am Place Jean Jaurès. Wir mieden jetzt wie auf Verabredung die großen Cafés der Cannebière. Sie setzte sich mir still gegenüber. Wir schwiegen lange. Schließlich fing sie an: »Ich war auf dem mexikanischen Konsulat.« Ich war bestürzt, ich rief: »Warum? Ohne mich zu fragen! Habe ich dir nicht verboten, irgend etwas allein zu versuchen?« Sie sah mich verwundert an. Dann sagte sie leise und leicht: »Mein Visum war noch nicht angekommen. Der kleine Kanzler versicherte mir, es sei eine Frage von Tagen. Doch auch die Abfahrt des ›Paul le Merle‹ ist eine Frage von Tagen.Man sagt jetzt auf der Martinique-Linie, das Schiff gehe früher ab, besonderer Regierungsbefehl. Der kleine mexikanische Kanzler sprach höflich mit mir, ja, mehr als höflich. Du kennst ihn vielleicht selbst, da du ja dort aus und ein gehst. Ein seltsamer kleiner Teufel. Auf jedem anderen Konsulat kommt man sich wie ein Nichts vor, die Konsuln sprechen mit einem Nichts, mit einem Dossierphantom. Dort ist es umgekehrt. Hast du schon seine Augen bemerkt? Man glaubt, daß er alles aus einem Dossier weiß, die Wirklichkeit selbst. Er hat mich angesehen und bedauert, ganz höflich, aber mit solchen unhöflich wachen Augen bedauert, daß mein Mann nicht gleich unter seinem eigenen Namen auch mein Visum eingereicht hat.« Ich verbarg meine Angst, ich fragte: »Was hast du ihm erwidert?« – »Daß ich damals noch nicht hier war. Doch er erwiderte immer höflich und immer mit demselben Blick, als ob er sich über mein blödes Lügen lustig mache, ich müsse mich da wohl täuschen, zur Zeit der Richtigstellung des Namens sei ich längst hier gewesen. Es gebe freilich in diesem Dossier allerlei Durcheinander, allerlei Namensverschiebung. Doch sei er an diese Scherze gewöhnt. Er lachte. Nicht bloß mit den Augen. Er lachte laut, mit den Zähnen. Ich schwieg nur. Ich weiß nicht, welche

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