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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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kleinen Geschäft in der Rue de Tournon.So früh ich kam, schon standen Frauen genug vor dem verschlossenen Laden, in Tücher und Kapuzen vermummt, denn es war windig und kalt. Man sah zwar schon etwas Sonne auf den äußersten Dächern, doch zwischen den hohen Häusern der Gasse lag schwerer, uralter Schatten. Die Frauen waren zu müde und steif, um zu schimpfen. Sie dachten an nichts als an den Erwerb der Sardinenbüchsen. Wie Tiere auf eine Erdöffnung lauern, in der sich etwas Genießbares zeigen wird, so lauerten diese Menschen auf den Türspalt, und ihre Kraft war auf nichts gerichtet als auf den Fang der Sardinenbüchsen. Warum sie so früh hier anstehen mußten um etwas, was sonst im Überfluß da war, wohin der Überfluß ihres Landes gekommen war, darüber nachzudenken, waren sie viel zu müde. Die Tür wurde endlich aufgeschlossen, die Schlange rückte jetzt langsam vor in den Laden hinein, doch hinter uns war die Schlange gewachsen, fast bis zum Belsunce. Ich dachte an meine Mutter, die sich jetzt ebenfalls eingereiht haben mochte im Morgengrauen in irgendeine Schlange vor irgendeinem Laden ihrer Stadt für ein paar Knochen oder ein paar Gramm Fett – In allen Städten des Erdteils warteten jetzt diese Schlangen vor unzähligen Türen. Wenn man sie aneinanderreihte, reichten sie wohl von Paris bis Moskau, von Marseille bis Oslo.
    Auf einmal kam auf der anderen Seite der Gasse, vom Boulevard d’Athènes her, Marie in ihrer spitzen grauen Kapuze, blaß vor Kälte. Ich rief Marie. Ein wenig Freude glänzte unleugbar auf ihrem Gesicht bei unserer Begegnung. Ich dachte: Wenn sie jetzt bei mir stehenbleibt, wird es gut ausgehen – Sie stellte sich neben mich, so daß die Frauen nicht fürchteten, daß sie sich in die Reihe einschleichen wollte. Sie fragte: »Was gibt es denn hier?« – »Sardinenbüchsen. Ich brauche sie für den kranken Jungen, zu dem ich damals deinen Freund brachte.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Die Frauen knurrten.Ich drehte mich schnell um und beruhigte sie, nur ich sei es, der um Sardinen anstünde. Doch gaben sie argwöhnisch acht, daß sich Marie nicht einschleiche, statt sich hinten anzureihen.
    Ich fragte Marie, warum sie so früh herumlaufe. – Auf die Schiffahrtsgesellschaften, auf das Reisebüro. – Ich dachte bei mir, daß sie loszog, um ihre tägliche Suche rechtzeitig zu beginnen. Doch unwillkürlich machte sie gleich am Anfang halt, blieb neben mir stehen, verschob ihre Suche um meinetwillen. Ich mußte sie sacht daran gewöhnen, mich zu suchen. – Die Menschen hinter uns wurden unruhig. Sie reckten die Hälse. Da sagte Marie: »Ich fürchte, ich muß jetzt weitergehen.« – »Jetzt stehen ja nur noch sechs Leute vor uns, Marie. Ich komme gleich an die Reihe. Dann kann ich dich begleiten.«
    Die Frauen wurden von neuem unruhig. Doch ließen sie diesmal einer den Vortritt, die ein Kind erwartete. Dabei erzählten sie hinter mir von einem Weib, das sich gestern den Vortritt erschlichen habe, indem es sich ein Kissen in seinen Rock steckte. – Doch diese neuangekommene Frau trug ohne Zweifel echtes Leben unter dem großen wollenen Kleid. In ihren Augen, die aus dem vor Kälte gesteiften Gesicht heraussahen wie die Augen einer Maske, verwandelte sich der Schreck, zu spät gekommen zu sein, in einen scharfen Glanz von Hoffnung, der etwas anderem galt als einer Fischbüchse. In ihrem stumpfen Gesicht verwandelte sich die Verzweiflung in einen Ausdruck von Geduld.
    »Da siehst du, man stellt sich auch vor uns an«, sagte Marie, »ich muß jetzt weg.« – Warum bin ich nur nicht mit ihr gegangen, dachte ich, warum lüge ich nicht Claudine an, der Laden sei geschlossen worden? Warum bleib ich hier in der Kälte stehen und warte?
VII
    Ich lud Marie ein in ein kleines Café am Boulevard d’Athènes. Sie ließ mich kaum warten. Doch wartete ich die wenigen Augenblicke verzweifelt, töricht. Da war es für mich denn ein Wunder, daß sie eintrat, geradewegs auf mich zuging. Sie warf ihre nasse Kapuze weg und setzte sich neben mich. »Wie steht es? Ist etwas erreicht?« – Ich sagte: »Ich habe schon manches erreicht. Du darfst dich da nur nicht einmischen, nichts verwirren. Man wird dich zur rechten Zeit rufen. Dann wird man nichts mehr von dir verlangen als eine Unterschrift.«
    Sie rückte ein wenig ab und stützte sogar den Kopf in die Hand, um mich besser zu betrachten. Sie sagte: »Mir kommt es bisweilen vor, daß mir ein Fremder hilft, wo ich selbst keinen Rat

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