Transit
Papiere mein Mann da vorgelegt haben mag. Ich darf ihm nicht ins Zeug flicken. Der Kanzler wurde auch wieder ernst, er sagte, das sei seine Sache schließlich nicht, er bedaure nur die Verspätung, er habe es immer als seine Pflicht betrachtet, das Unglück der Menschen durch die ihm von Amts wegen möglichen Maßnahmen zu verringern. Doch lassen wir den Kanzler. Mir ist es schließlich einerlei, was er denkt, selbst wenn er das Richtige denkt. Mein Mann hat mein eigenes Visum nicht mit eingereicht, weil man ihm erzählt hat, ich führe mit einem anderen. Verstehst du?«
»Du wirst trotzdem dein Visum bekommen. Ich versprech es dir.« Sie erwiderte nichts. Sie sah in den Regen. Auf einmal spürte ich, daß ich ihr alles sagen müsse, dieganze Wahrheit, komme, was da wolle, für sie und auch für mich. In einem furchtbaren Schweigen von vielen Sekunden begann ich nach Worten zu suchen, so hart zu suchen, daß mir der Schweiß auf der Stirn stand.
Da lächelte sie ein wenig, rückte dicht zu mir, schob ihre Hand in meine Hände, legte den Kopf an meine Schulter. Ich hörte auf, nach Worten zu suchen, mit denen ich ihr die Wahrheit hätte erzählen können. Ich dachte jetzt vielmehr, am besten sei es, sie sei bereits mit Leib und Seele zu mir übergegangen, bevor sie die Wahrheit erfuhr. Ich sagte: »Sieh mal die Frau an, dort drüben mit dem Berg Austernschalen. Ich treffe sie fast täglich. Ihr ist das Visum verweigert worden. Jetzt verfrißt sie ihr Reisegeld!« Wir lachten und sahen ihr zu. Ich kannte viele, die draußen im Regen vorbeigingen oder naß und frierend in unserem kleinen vollen Café nach Platz suchten. Ich erzählte Marie ihre Geschichten, ich merkte, wie gern sie zuhörte. Ich hörte nicht auf, zu erzählen, damit das Lächeln ja nicht aus ihrem Gesicht verschwinde und jener Ausdruck von finsterer Trauer in ihren Zügen zurückkehre, den ich am meisten fürchtete.
Im Laufe der Woche fragte der Arzt mich oft, ob das Visum noch nicht angekommen sei. Die Transports Maritimes habe das Abfahrtsdatum endgültig festgesetzt. Ich ging aber gar nicht mehr auf das mexikanische Konsulat. Ich hatte zum zweitenmal den Entschluß gefaßt, ihn ohne Marie abfahren zu lassen.
Siebentes Kapitel
I
Ich traf den Arzt in Binnets Wohnung zum letztenmal am 2. Januar. Er untersuchte den Knaben nicht mehr, der auch schon zur Schule ging und vorerst gesund war, er brachte ihm nur ein Geschenk. Der Knabe wickelte das Geschenk nicht aus. Er stand aufrecht an die Wand gelehnt mit niedergeschlagenen Augen, mit zusammengebissenen Zähnen. Der Arzt strich ihm über den Kopf, er zog den Kopf weg. Er gab ihm nur matt die Hand. Beim Weggehn lud mich der Arzt für den nächsten Abend in die Pizzaria ein. Zum Abschiedfeiern, wie er sagte. Ich machte mir klar, daß er wirklich abfuhr, daß ich jetzt mit Marie allein blieb. Mir wurde bang wie im Schlaf, wenn ein Traum sich der Wirklichkeit ähnlich gebärdet und gleichwohl etwas Unfaßbares, etwas Unmerkliches einen belehrt, daß das, was glücklich macht oder traurig, niemals die Wirklichkeit sein kann.
Er sagte mit seiner ruhigen, der Kranken halber gewohnheitsmäßig gedämpften Stimme, mit seinem ruhigen mäßigen Blick, in dem nichts anderes mehr zu lesen war, als was er sah, in diesem Fall mein eigenes Bild, zu meiner Bestürzung klar: »Ich bitte Sie, ja, ich rate Ihnen, alles rasch zu tun, damit Marie abfahren kann, womöglich über Lissabon. Helfen Sie ihr bei der Transitbeschaffung, wie Sie ihr bei der Visenbeschaffung helfen. Das Wichtigste: Brechen Sie ihre Unschlüssigkeit.« Er drehte sich noch einmal um und sagte beiläufig übet die Schulter: »Marie selbst wird sich nie endgültig entschließen, zu bleiben. Ihr ist der Gedanke gekommen, derMann selbst sei bereits abgefahren, bereits in der Neuen Welt.«
Ich stand eine Weile betäubt in der Küche. Und plötzlich fühlte ich auf den Arzt eine grundlose, sinnlose Eifersucht, noch törichter als am ersten Tag, da wir hierher in Binnets Wohnung gekommen waren. Was neidete ich dem Menschen, da er doch wegfuhr? Seine Kraft? Sein Wesen, das er mitnahm? Ich dachte sogar einen Augenblick, daß er vielleicht noch besser als ich zu schweigen verstehe, daß er mehr wisse, als er verrate. Ich fühlte sogar in meiner Verwirrtheit und Torheit ein Einverständnis mit dem Toten heraus, eine Eintracht, wobei sich beide in ihrem Schweigen über mich lustig machten. Ich wachte aus diesen unsinnigen Träumen auf durch ein schwaches
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